Beethoven und ich – Die Erinnerung der Langsamkeit

Jetzt. Ich tippe konzentriert interessante historische Zeitungsmeldungen ab. Um meine geräuschfreie Ruhe zu haben, habe ich zuvor meine Hörgeräte herausgenommen und meine Kopfhörer aufgesetzt. Meistens höre ich neben dieser Recherche- und Forschungsarbeit eine Geschichtsdokumentation, ein Hörspiel oder – seltener – Musik.

Musik ist für mich meist dann furchtbar ablenkend, wenn ich über Musik nachdenke. Das ist dann in etwa so störend, wie Besteckschieben über Porzellan, obwohl Musikhören und Musikdenken an und für sich schön sind. Eigentlich wollte ich heute nur Samuel Barbers Agnus dei nebenbei haben, das auf die vielen zauberhaften, aber teils auch schrecklichen Meldungen historischer Zeiten im stetigen Wechsel so gut passt. Und das je nach Stimmung im Dauer-Repeat. Heute sollte es also Dauer-Repeat sein.

Aber heute ist daran etwas anders. Statt Dauer-Repeat läuft aus Versehen ein Mix mit aufeinanderfolgenden YouTube-Musikvideos. Deshalb folgt auf dieses Agnus dei der zweite Satz aus Beethovens Klavierkonzert Nr. 5, und zwar mit dem London Festival Orchestra und Sylvia Čápová-Vizváry am Flügel.

Weil ich gerade höchst konzentriert am Abtippen bin, lasse ich diese Musik trotzdem weiterlaufen. Und denke nach dem Orchesterintro nach der ersten Abwärtsbewegung der darauf einsetzenden Klaviertöne genervt: „Uff, schlaf halt ein beim Spielen“. Eine der langsamsten Interpretationen dieses Werks, die ich je gehört habe.

Ich schließe kurz die Augen, um – im Schreibfluss unterbrochen – das Stück wegzuklicken, aber diese Langsamkeit des Spiels rührt plötzlich etwas in mir. Eine Erinnerung, einst selbst die Tasten eines Flügels mit genau diesem Werk bespielt zu haben. Nachts. Auf meinem Seelenflügel, den zu spielen ich nur einmal die Chance hatte: Während meines Studiums in einem Hinterzimmer der alten Schillstraßen-Uni in Augsburg, wo damals die Musik und Musikpädagogik untergebracht war und wo in jener Nacht die Faschingsparty des Musikinstituts lief in Kooperation mit der Uni-Bigband, in der ich für wenige Jahre am Klavier spielte.

Von manchen Partys habe ich schnell genug und sondere mich dann ab bzw. würde ich mir lieber die Haare anzünden, als noch länger dort zu bleiben. Das war solch ein Abend. Ich suchte meine Sachen zusammen und irrte durch die Gänge. Statt zu einem Ausgang gelangte ich in einen nicht abgeschlossenen Raum für Dozierende, der recht kahl ausgestattet war, aber in dessen Mitte ein schlichter Flügel mit schimmernd lackiertem Nussbaumfurnier stand und mich lockte. Das Instrument war nicht verschlossen. Ich öffnete den Deckel zur Tastatur, und hell und abwartend glänzten mich die Tasten an. Ich setzte mich und legte meine Hände auf diese kleine Gebirgskette von Welt, die fast wie von alleine zu jenem zweiten Satz des Beethoven’schen Klavierkonzerts ansetzten.

Und jener Klang jenes Flügels benetzte meine Seele – wie glasklarer Firnis, über historische Ölfarben gelegt. Ich kam nicht weiter als bis zur Wiederholung des zweiten Themas, weil ich dieses mit einem Deep Impact verbinde: Erstmals richtig wahrgenommen hatte ich diesen zweiten Satz dieses fünften Klavierkonzerts im Film Picknick am Valentinstag (Peter Weir, 1975), den ich mit 15 oder 16 zum ersten Mal im Fernsehen sah, dessen Drama sich um an jenem Tag des Jahres 1900 verschwundene Schülerinnen eines australischen Internats rankt; darunter auch die Trauer einer Schülerin, die in eine der vermissten Schülerinnen, die auf immer verschwunden bleiben, verliebt ist. Ähnlich ging es mir damals mit heimlich-unerreichbaren Verliebtheiten. Das Klavierkonzert setzt in diesem Film zu einer Szene eines dräuend-schwülheißen Sommertages ein, in der eines der vermissten, aber alleine wieder aufgetauchten Mädchen sich an einem kleinen See erholt. Eine sehr gechillte Szene, in der sich diese Musik auch auf das ganze Drama insgesamt legt wie zur Beruhigung – allerdings eine gefährliche Ruhe vor dem eigentlichen Sturm.

Zur Zeit meines Wirkens in der Uni-Bigband hatte ich in meiner damaligen Wohnung noch ein Klavier, mit dem ich üben konnte. Umzugsbedingt und platztechnisch habe ich heute seit Jahren jedoch leider kein Klavier mehr, und Corona-bedingt kann ich auch sonst nirgends spielen. Deshalb bleibt mir nur der hörende Input, aber nicht der praktizierende Output, in den man im Gegensatz zum hörenden auch sehr, sehr viele Gefühle hineinlegen kann, die einen so beschäftigen.

Jedenfalls: Ich habe jenen Flügel in der Schillstraße nur in dieser einen Nacht gespielt, ganz für mich alleine, und es war einer der zauberhaftesten Musikglücksgefühlsmomente ever. Weil ich jene Klaviertöne ganz langsam gespielt habe, um den Klang des Flügels, die Länge der einzelnen Noten um des Klangs Willen zu dehnen und hinauszuzögern. Note gegen Note, punctus contra punctum. In etwa so langsam wie in Sylvia Čápová-Vizvárys Interpretation, während das Orchester in meinem Kopf spielte und ich mitten im Februar an die Leichtigkeit eines Sommertages dachte und wie leicht es sich damit manchmal auch lieben lässt.

Und mit jener Erinnerung an diese Nacht dachte ich daran, warum wir es mehr oder weniger nicht mehr (?) gewohnt sind, Musik ganz langsam zu hören oder zu spielen. Dabei stammt Beethovens Klavierkonzert aus den Jahren 1808/1809 – in einer Zeit, in der es tempologisch nach Gefühl ging. Da gab es zum Beispiel die Vorgabe: Andante – gehend. Wie schnell oder wie langsam aber ist gehend? Wer oder was gibt den Schritt vor? Beethoven war einer der ersten 300 Komponisten, die sich mit dem von Johann Nepomuk Mälzel 1817 patentierten (und zuvor geklauten) Metronom beschäftigten, mit dessen Hilfe man exakt vorgeben konnte, wie schnell oder wie langsam man ein Werk spielen konnte. Besonders zu Beethoven holt Eleonore Büning diesbezüglich ganz wunderbar aus.[1]

Dadurch können Komponist:innen auch heute noch genau festlegen, wie schnell oder wie langsam etwas in ihnen selbst klingt, wie ‚richtig‘ ein Werk in ihnen klingt, damit andere einen Anhaltspunkt mehr haben, um sich der Empfindung des tonschöpfenden Menschen noch besser annähern zu können. Beethovens zweiter Satz des fünften Klavierkonzerts trägt die Bezeichnung Adagio un poco mosso: Langsam, ein wenig bewegt – wortwörtlich übersetzt.

Von Beethoven wissen wir, dass sich die Liste seiner Werke mit Metronomangaben im Verhältnis zu seinem ganzen Musikschaffen recht klein ausnimmt. Allerdings gibt es dokumentarische Belege, die die Behauptung unterstützen, dass er beabsichtigte, Metronomangaben für fast jedes spätere Werk zu setzen. Das hat zum Beispiel Marten A. Noorduin in seiner Dissertation zu Beethovens Tempo-Angaben herausgearbeitet.[2]

Für jenes fünfte Klavierkonzert aber gibt es keine Beethovenschen Original-Metronomangaben, auch nicht nachträglich hinzunotiert. Für gar keines seiner Klavierkonzerte oder seiner Klaviersonaten. War seine Begeisterung für das Metronom nur ein Strohfeuer, wie Eleonore Büning schreibt? Wir wissen es nicht genau. Auch das Nachbearbeiten und vor allem das Aufbewahren seiner Originalhandschriften schien Beethoven ziemlich egal gewesen zu sein: Sobald ein Werk gedruckt war, empfand er seine handgeschriebenen Notizen und Fassungen als nicht mehr sonderlich wichtig. Wichtig für ihn war der Druck: Das auch für die Öffentlichkeit Manifestierte.

Deshalb gibt es nur eine ungefähre Spanne, wie weit bzw. lang sich solch ein Adagio un poco mosso letztendlich dehnt bzw. wann ein Adagio endet und ab welchem Tempo eine Tonabfolge eine andere Geschwindigkeitsbezeichnung erhält. Zu solchen Überlegungen gibt es besonders bei Beethoven wahre und heftige Glaubenskriege. Orchesterleitung und spielende Person müssen sich jedenfalls einig sein im Zusammenspiel, damit man sich im Konzert nicht gegenseitig davonrennt.

Spielt man aber nur für sich zur ureigenen Seelenempfindung, dann gibt es kein zu langsam oder zu schnell und auch kein falsch. Dann ist das richtig, das einen in diesem Moment einfach nur glücklich macht. Und jetzt in diesem Moment macht mich jener so langsam gespielte zweite Satz des Beethovenschen Klavierkonzerts Nr. 5, das sich auch während des Schreibens dieses Texts aus der Erinnerung und aus meinen Kopfhörern heraus in meine Gehörgänge schmiegt, unendlich glücklich.
Im Dauer-Repeat.


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Einzelnachweise
[1] Eleonore Büning: Ludwig van Beethoven. 24. Folge Banner der Zeit. rbb kultur, 14. Juni 2020.
[2] Marten A. Noorduin: Beethoven’s Tempo Indications. Manchester 2016, S. 70.