Recycling 1850 – aus Obstkisten werden Särge

In den 1830er/1840er Jahren setzte durch Trockenperioden eine starke Nahrungsmittel- und Holzteuerung ein (was zu organisiertem Abbau von Torf führte). In Augsburg kauften sozial eingestellte Kulturvereine große Holzlieferungen an, um diese an arme Menschen auszuteilen. Das dafür benötigte Geld wurde zum Beispiel durch Benefizkonzerte in der Goldenen Traube erspielt. In jener Zeit wurde verwertet, was zu verwerten war. Recycling spielte von jeher eine große Rolle zum Beispiel in der Verwertung von alter Kleidung, aus der Papier hergestellt wurde.[1]

Durch Seuchen wie die Cholera, „nervöses Fieber“ unbekannter Art und Blattern, die in den 1830er und 1840er Jahren von St. Petersburg bis Paris besonders stark wüteten, hatte man für pietätvolle Bestattungen einen erhöhten Bedarf an Holz. Da dieses rar war, kam man in London auf eine findige Idee, diesem Mangel abzuhelfen: Man wies Händler im nahen Ausland an, ihre Warenkisten bereits in bestimmten Größen und Formen anfertigen zu lassen, die in London dann nur noch schwarz angestrichen werden mussten. Fertig war der Recycling-Sarg!

Recycling gruselhaft
Recycling: Obstkisten zu Särgen
Recycling: Obstkisten zu Särgen

Augsburger Tagblatt, No. 137. Montag 20. Mai 1850, S. 691: „In London hat man in der neuesten Zeit eine eigenthümliche Art ausfindig gemacht, England ohne große Unkosten mit Särgen zu versorgen: London bezieht Obst, Geflügel, Eier und andere Lebensbedürfnisse von Holland, Belgien und Frankreich; seit Monaten haben nun die Londoner Einkäufer ihren Geschäftsfreunden auf dem Festlande die Weisung zukommen lassen, die Kisten für jene Waaren nach einem gleichförmigen Muster arbeiten zu lassen; sie müssen 7 Fuß lang, 1 gute Elle hoch, eben so breit und aus 7 Brettern gemacht seyn, mit andern Worten: Diese Aepfel und Eierkästen werden in London schwarz angepinselt und gleich als Särge verkauft, die um einige hundert Prozent billiger zu stehen kommen, als die, welche der Londoner Tischler macht.“

Etablierung der Feuerbestattung

In derselben Zeitung findet sich einen Absatz weiter folgender bemerkenswerter Bericht, der sich zu Feuerbestattungen positiv äußerte:

„Unter den zahllosen Londoner Associationen hat sich nun wirklich auch ein Verein für Leichenverbrennung gebildet, der mindestens seinerseits beitragen will das grausenhafte Londoner Kirchhofunwesen zu vermindern. Der Verein hat den Plan in der unmittelbaren Nähe der Hauptstadt, ein Gebäude zu jenem Zweck nach den besten wissenschaftlichen Grundsätzen zu errichten, deßgleichen einen Garten anzulegen wo die Aschenkrüge in Grabmonumenten aufgestellt werden können. Die Verbrennung soll nicht bloß nicht theuer, sondern sogar wohlfeiler zu stehen kommen als die jetzige Todtenbestattung. Die Wiedereinführung jener schönen und reinlichen alten Sitte – die ja nicht bloß griechisch oder römisch, sondern auch germanisch war, und welche noch unlängst der alte fromme Justinus Kerner, ein Christ und ein Arzt, anempfohlen hat – wäre im leiblichen und geistigen Interesse der Lebenden gewiß zu wünschen.“

Re-Germanisierung

Interessant an obiger Pressemeldung ist, wie die Feuerbestattung plötzlich befürwortet wurde, die vor 1848/49 noch als ‚unchristlich‘ galt; durch den aufkommenden Nationalismus und die Rückbesinnung auf ‚germanische‘ Wurzeln des ‚deutschen Volkes‘ wurde dieser vormalige Negativismus ins Positive gekehrt. ‚Das Germanische‘ wurde somit nicht als Trennendes, sondern gleichsam als eine Art Vorläufer des heilbringenden Christentums und dadurch eines heilbringenden Nationalismus empfunden. Deutlich ist hier die Pseudo-‚Re-Germanisierung‘ auf dem Weg ins spätere sogenannte Dritte Reich zu erkennen.

Leichen als Schmuggelware

Das „grausenhafte Kirchhofunwesen“ erscheint hin und wieder in historischen Zeitungen. So  herrschte in den 1820er Jahren ein Mangel an für anatomische Forschungen freigegebener Leichen. Frische Tote wurden heimlich wieder ausgegraben, in Fässer gesteckt und woandershin geschmuggelt, vermutlich gegen gutes Geld:

Augsburger Postzeitung, Nro. 295. Samstag, den 10. Dez. Anno 1825, S. 2f: „London, den 1. Dez. […] Eine Glasgowner Zeitung erzählt: „Heute empfieng die Polizey Nachricht, daß sich in einigen Liverpooler Schiffen 5 Fässer mit menschlichen Leichnamen befänden, welche an Chirurgen in Edinburg addressirt wären. Die Polizey ließ die Fässer wegnehmen, in denen man 12 todte Körper von Männern, Frauen und Kindern fand. Jedes Faß enthielt zugleiche eine Menge Salz und Sägespäne. Die sämmtlichen Leichen wurden noch an demselben Tage auf dem Kirchhofe begraben. Viele solcher Fässer mit ähnlichen Addressen sind hier seit einigen Monaten gelandet, und nach Edinburg geschafft worden.“

Literarische Verarbeitung
Charlotte Birch-Pfeiffer um 1850 © Wikimedia.Commons gemeinfrei
Charlotte Birch-Pfeiffer um 1850 © Wikimedia.Commons gemeinfrei

Die Schriftstellerin Charlotte Birch-Pfeiffer (1800–1868) verarbeitete solche Vorkommnisse in ihrem Bühnenwerk Der Leichenräuber, das am 4. März 1834 im Augsburger Stadttheater gegeben wurde.[2] Sie reiht sich somit ein in die Meisterinnen des gepflegten Grusel-Genres, darunter auch Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848), die den Grusel ebenso liebte und das meisterinnenhaft für die Brüder Grimm verarbeitete in Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen.

Von Justinus Kerner (1786–1862, Arzt, Dichter und Schriftsteller), der in oberster Pressemeldung genannt ist, ist seine Ansicht über die Nützlichkeit der Feuerbestattung in folgendem Gedicht überliefert:

„Das Verbrennen alter Zeit
Wenn der Mensch, ein faulend Aas,
Lieget unter Erd‘ und Gras,
ln und auf ihm Würmer, Käfer,
Sagen sie: Der müde Schläfer
Ruht nun süß im Erdenschoß!
lch doch sage: herbes Los!

Und die Leiche, die ins Meer
Man gesenket, treibt umher
Unter Haien, Wasserschlangen,
Deren Magen sie empfangen.
Oben spricht ein dummer Mund:
Der ruht süß im stillen Grund!

Abscheu auch der Fürstengruft,
Wo ein Leib voll Moderduft
Liegt gekrönt im Sarkophage,
Daß er noch am Jüngsten Tage
Engeln Gottes Zeuge sei
Menschlicher Alfanserei.

Glaubt, am schönsten wär‘ noch heut
Das Verbrennen alter Zeit,
Feuer läßt zurücke keine
Totenköpf und Totenbeine,
Was als Asche kam zur Welt,
Flugs in Asche niederfällt.

Und zum Trotz dem kalten Tod
Glüht ein heißes Morgenrot,
Solches trägt in Himmels Lüfte
Über Moder, über Grüfte
Eines Menschen letzten Rest
– Das ist Tod nicht, – ist ein Fest.“[3]

Passend zum Thema konnte ich derweil noch herausfinden, dass die erste offizielle Feuerbestattung nicht in Dresden, sondern in Breslau stattfand. Siehe Link eine Etage tiefer.

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Erste Feuerbestattung Deutschlands nicht in Dresden, sondern in Breslau!

Einzelnachweise
[1] Vgl. https://www.bvse.de/themen/geschichte-des-textilrecycling.html (Stand: 06.10.2020).
[2] Vgl. Augsburger Tagblatt, Nro. 61. Sonntag. 2. März 1834, S. 244. Dieses Werk Charlotte Birch-Pfeiffers ist noch nicht näher untersucht.
[3] Vgl. https://www.heimatverein-waiblingen.de/webhosting/heimatvereinwaiblingen/pc_main.nsf/0/E3D109130494A7A4C1257B64005F93AB/$File/Kerner.pdf (Stand: 06.10.2020).

2 Gedanken zu „Recycling 1850 – aus Obstkisten werden Särge“

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