Schuld war wie immer die Frau?

Madame de Staël 1812 © Wikimedia.Commons (allgemeinfrei)
Madame de Staël 1812 © Wikimedia.Commons (allgemeinfrei)

In den Jahren nach 1800 drängte Napoleon seine Armeen durch Europa. Seine Taten und Untaten sind bekannt und auch, wie er mit Frauen umging. Eine der aufmüpfigsten Frauen dieser Zeit war Madame Germaine de Staël (1766–1817), die man heute als Literatursoziologin bezeichnen würde. Deren Vater war Jacques Necker, Finanzberater von König Ludwig XVI., der aus dem Amt verwiesen wurde. Wie es mit Ludwig ausging, ist ebenfalls bekannt. Durch dieses hohe Amt und diese für das französische Volk unglaublich hohe Verantwortung, geriet auch Neckers Tochter aufs Tapet der Öffentlichkeit.

Kritische Schriftstellerin und Feministin

Sie verfasste kritische Schriften zur damaligen Zeit und v. a. zu Männern (z. B. Briefe über den Charakter und die Schriften von Jean-Jacques Rousseau 1786/87). In ihrem Salon trafen sich zu Revolutionszeiten die gemäßigten Revoluzzer. Als die Revolution zunehmend radikaler wurde, war es ihre Idee, die königliche Familie 1792 zur Flucht zu bewegen (was scheiterte und als Hoch- und Landesverrat angesehen wurde). Sie musste dann selbst fliehen und kam auf einem kleinen Schloss unter, in dem sie andere berühmte Menschen, die vor der Revolution geflüchtet waren (z. B. Lord Byron und Chateaubriand), unterbrachte. Ihr Buch Über Deutschland – eines der Bestseller ihrer Zeit – war maßgeblich dafür verantwortlich, dass in Frankreich die Weimarer Klassik mit ihrer Literatur, Kunst und Philosophie erst bekannt wurde.

Aktiv auch im Exil

In ihrem englischen Exil etwas später schrieb sie bedeutende politische Schriften, in denen sie sich fragte, wie Kriege solcher Art überhaupt zustande kamen. Sie lernte um 1797 Napoleon I. Buonaparte kennen, der von anderen und vor allem von sich selbst als “Heilsbringer” überzeugt war, und dem sie zunächst bedeutende Positionen in der Politik zu verschaffen suchte. 1799 durchschaute sie allerdings seine politischen, im wahrsten Sinne des Wortes verheerenden Absichten und wurde zu einem der Eckpfeiler der Opposition gegen Napoleon, worauf ihr der Aufenthalt in Paris verboten wurde.

Einige Zeit verbrachte sie daraufhin reisend und schreibend in Wien, bevor sie ihr Exil in Coppet bei Genf fand, wo sie allerdings unter Hausarrest gestellt wurde. Auf weiteren Odysseen durch Europa (London und Schweden) verfasste sie weitere regimekritische Texte. Nach 1815 schloss sie sich Ludwig dem XVIII. an und erhielt für ihre Verdienste eine große Geldsumme, mit der sie abgesichert leben konnte. 1817 erlitt sie einen Schlaganfall, an dessen Folgen sie starb.

Schuld war wie immer die Frau?

Folgende Anekdote schreibt davon, dass nicht Napoleon Schuld habe am Krieg von 1807 (sog. Vierter Koalitionskrieg u. a. gegen Preußen), sondern Germaine de Staël, weil sie durch ihre Napoleon-kritischen Berichte die damalige Königin Luise von Preußen negativ beeinflusst haben soll, die daraufhin zur Mobilmachung gerufen bzw. wiederum ihren Mann Friedrich Wilhelm III. gegen Napoleon gedrängt habe:

Augsburger Postzeitung, Nro. 6, Sonntag, 6. Jan. 1833. [S. 6] […] Nach den “Mémoires d’une femme de qualite” war es die Frau von Stael, welche der Königin von Preußen die üble Meynung von Napoleon eingeflößt hatte. “Frau von Stael (heißt es hier) sprach nur mit Lob von Josephine [Frau Napoleons] und Hortense [Stieftochter Napoleons]; sie beklagte sich nicht über die Damen aus der Familie Bonaparte; sie hatte nichts gegen Louis [Bruder Napoleons], Joseph [ältester Bruder Napoleons] war fast ihr Freund; aber wenn die Rede auf Napoleon kam, so äußerte sie sich über ihn mit der höchsten Bitterkeit, welche alle ihre Zuhörer theilten. Er wurde als ein Mann ohne Tugend, ohne Treue und Glauben, als ein Tyrann, und besonders als ein Gegner der Frauen geschildert, der sich darinn gefiel, sie ohne Ansehen des Standes und Ranges, durch Spottreden herabzuwürdigen. Diese Unterhaltung hatte die unseligsten Folgen; sie führte den für Preußen so traurigen Krieg von 1807 herbey.” […]

Ein “Klassiker”, wie die Schuld (der Erbsünde) immer wieder der Frau zugeschachert wurde. Aber möglicherweise war sie – als gebildete, interessierte Frau – tatsächlich auf die Schriften von Germaine de Staël gestoßen und wollte sie kennenlernen. Das bleibt zu erforschen.

O-Töne

Ein Auszug aus der Dokumentation Luise – Königin der Herzen (arte/3sat 2009):

Friedrich Wilhelm III. von Preußen (1770-1840): “Viele Menschen haben in dem Wahn gestanden, als ob meine Frau einen bestimmen Einfluss auf die Regierungsgeschäfte gehabt hätte. Eigentlich war sie ganz ohne einen direkten Einfluss. Nur manchmal – bei wichtigen politischen Ereignissen – pflegte ich ihr davon zu unterrichten und ihr meine Hoffnungen und Besorgnisse mitzuteilen, über die sie mit ihrer gesunden reinen Vernunft nicht zu urteilen wusste.” Friedrich Wilhelm entscheidet sich für den Widerstand [gegen Napoleon]. Auch Luise drängt ihren Mann, sich Napoleon entgegenzustellen. Sie sieht in Napoleon das Ungeheuer, die Geißel der Erde und Quelle des Bösen. Preußen mobilisiert. Der Krieg erweist sich als fatal. 1806 wird die preußische Armee bei Jena und Auerstädt vernichtend geschlagen. Über 30.000 Soldaten sterben in dieser Entscheidungsschlacht. […]

Napoleon fielen die Briefe von Luise in Berlin in die Hände und ließ sie – mit bissigen Kommentaren versehen – in einer französischen Zeitschrift veröffentlichen: die Königin sei Schuld am Untergang der preußischen Monarchie, die fleißige Armide, die in ihrer Raserei ihren eigenen Palast in Brand setzte. Durch Napoleon angestachelt starteten französische Karikaturisten eine Kampagne gegen die Königin. In den Spottbildern wird sie zur entblößten Amazone. Luise war gezwungen worden, Napoleon auf Schloss Pilnitz treffen, dem Urheber dieser Schmach ins Gesicht blicken und mit ihm über Politik zu sprechen.

Prof. Dr. Luise Schorn-Schütte: “Die Königin wollte etwas für ihr Land erreichen, […] um eine kommunikativ Atmosphäre herzustellen, die sie sich eher zutraute als dem König.” Am 6. Juli 1807 sollte sie Napoleon treffen. Gräfin Radtziwil, engste Vertraute Luises, stellte einen akkuraten Bericht über das Treffen zusammen: “Die Königin begann Folgendermaßen: ‚Ich weiß, dass Sie mich beschuldigen, ich mische mich in politische Dinge. Ich bin Gattin, Mutter, und als solche lege ich Ihnen das Schicksal Preußens ans Herz. […] Ich wende mich an Ihr großmütiges Herz’.” Luise bittet den Kaiser um politische Zugeständnisse, er aber macht ihr nur Komplimente für ihre Garderobe. Am Ende ist das Ergebnis der Friedensverhandlungen niederschmetternd. Preußen verliert große Gebiete im Westen und Osten. Napoleon schafft daraus das Herzogtum Warschau und das Königreich Westfalen. Preußen wird durch diesen Friedensvertrag halbiert.

Dr. Jürgen Luh: “Nach und während der Befreiungskriege – nach Luises Tod – ging es darum, diese Schmach, die Napoleon den Deutschen angetan hat, zu rächen, und insofern kann man sagen, dass Luise innenpolitisch nichts bewirkt hat, aber für die Mobilisierung der preußischen Bevölkerung, in Frankreich gegen Napoleon politisch eine große Rolle gespielt hat. […] Luise war keine treibende Kraft der preußischen Reformen. Treibende Kräfte waren die bekannten Namen Stein, Hardenberg, Scharnhorst, um nur einige zu nennen. Luise aber hat gefühlt, dass sich in Preußen etwas verändern müsse, und sie hat aus diesem Instinkt heraus – diesem politisch wichtigen Instinkt heraus – mit den Reformern sympathisiert.”

Luise wirkt immer wieder vermittelnd, wenn sich die Männer [die Politker der Reformen] zu entzweien drohen. Besonders bei Freiherrn von Stein […] ist dies immer wieder nötig. Als Stein einen der Kabinettsmitglieder entfernt sehen will, Friedrich Wilhelm aber zögert, schreibt sie dem Staatsminister und beschwört ihn, nicht nachzugeben. Einer von zwei nach den Reformen verbliebenen Generälen über die neu aufgestellte Armee ist Freiherr von Blücher, der Luise glühend verehrt. Sie bewundert seinen Kampfgeist gegen Napoleon. […] Als Rächer der Königin Luise geht Blücher in die Geschichtsbücher ein. […]”