Der Suizid der Ida Pollak-Kompert

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Dr. Leopold Kompert © wikimedia commons (gemeinfrei)

Leopold Kompert (1822–1886) – Wiener Schriftsteller, der seinerzeit besonders für seine Geschichten aus dem Ghetto gefeiert wurde, ist heute so gut wie nicht mehr im Gespräch oder nur noch Kennern und Kennerinnen der Literatur- bzw. jüdischen Geschichte geläufig. Er hatte es geschafft, sich als Sohn eines Wollhändlers nach ganz oben zu arbeiten, so zum Beispiel als Erzieher der Kinder von Graf Andrássy oder als Feuilletonredakteur und Herausgeber des Österreichischen Lloyd, verfasste u. a. auch jüdische Horrorgeschichten wie Nicht sterben können und war Mitgründer des Wiener Stadttheaters, das bis 1960/61 in der Leopoldstadt bestand.[1] 1857 heiratete er die Sozialarbeiterin, Feministin und Vereinsfunktionärin Marie geb. Löwy/Levy verwitwete Pollak (1821–1892), die am 2. Juni 1866 in Wien u. a. den so bedeutenden Frauenerwerbsverein gegründet hatte, der durch weitere Agitation Tausenden von Mädchen und jungen Frauen Bildungs- und Erwerbsmöglichkeiten verschaffte. Dieses Datum ist hier von Interesse, denn ihre ledige Tochter Ida, um die es hier eigentlich geht, hatte sich als 18Jährige knappe zweieinhalb Monate zuvor ums Leben gebracht: War Ida selbst Betroffene für diese schwierigen Umstände? War dies (mit) ein Grund für Ida, aus dem Leben zu scheiden? Und damit ggf. der letzte das Fass zum Überlaufen bringende Tropfen für ihre Mutter, sich aktiv auch für andere junge Frauen einzusetzen?

Fehlende Kompert-Pollak-Kinder

Marie brachte aus ihrer vorangehenden Ehe mit Ludwig Samuel Pollak (1804–1848) in ihre neue Ehe mit Leopold Kompert zwei (lebende) Töchter mit: Emma (später verh. Kunwald) und Ida Pollak.[2] Die Töchter spielten in der Außenwirkung bzw. in den Wikipedia- und anderen Lexikon-Artikeln von Leopold Kompert und Marie Pollak bis jetzt noch keine Rolle. Niemand scheint sich bislang mit deren Schicksal auseinandergesetzt zu haben – bis heute Vormittag. Beim Durchlesen einer Augsburger Zeitung aus dem Jahr 1866 blieb ich an einem Bericht eines Suizids hängen, der extrem drastisch geschildert worden war. Damals herrschte in den Zeitungen zwar mehr oder weniger noch Zensur; keine Scheu aber hatte man vor detaillierten Schilderungen von Unfällen, Morden oder Hinrichtungen bis hin zum letzten Zucken oder selbst der Beschaffenheit von Wundrändern. Daher an dieser Stelle schonmal eine Vorwarnung vor dem, was gleich noch kommt.

Diesen Suizid betraf eine der Töchter Marie Komperts, nämlich Ida. Allzu viel konnte ich über Letztere nicht herausbekommen, nur, dass sie im Oktober 1862 als Privatiere – jemand, der oder die durch Grundbesitz oder Geldhaben nicht arbeiten musste – ein Konkurs-Verfahren am Hals hatte[3] und einer Elise Forstinger noch im Jahr 1866 wofür auch immer 170 Gulden schuldete – damals eine Menge Geld.[4]

Ein Suizid und seine Folgen

Nun könnte man denken, dass das eventuell das Motiv ihres Suizids war, aber schauen wir noch weiter, denn ihr Stiefvater war nicht gerade arm, war er doch mit seiner Familie erst in den mondänen Neubau am Kolowratring Nr. 8 (seit 1928 Schubertring Nr. 8) gezogen.[5] Ida Pollak taucht erst wieder durch ihren Suizid in den Wiener Zeitungen auf, der damals die Stadt schockte und Tagesgespräch war.

Zu Suiziden dieser Zeit muss man wissen: Menschen, die sich selbst ums Leben brachten, waren im Tode geächtet. Weil sie das höchste Geschenk Gottes – das Leben – abgelehnt bzw. zurückgewiesen hatten, hatten sie eigentlich kein Recht in geweihter Erde ordentlich auf einem Friedhof begraben zu werden. Selbstmörder verscharrte man daher noch lange in irgendeinem Winkel fernab ‚anständiger‘ Leichen oder irgendwo jenseits der Friedhofsmauern. In einigen Fällen, die aus Augsburger Zeitungen wieder ans Tageslicht gekommen sind, sorgte aber Zivilcourage und Menschlichkeit dafür, dass auch solche armen Leute doch noch anständig unter die Erde kamen, auch wenn Pfarrer oder Priester ihnen das Bimmeln des Sterbeglöckchens verwehrten oder gar den Klöppel der Glocke zuvor abnahmen. Daher brachte jeder Suizid auch Schande über eine Familie, die dadurch beäugt wurde, als habe sie ihre Mitglieder nicht zu ordentlichen Gläubigen erzogen, für die Suizid selbstverständlich tabu war. Sehr ähnlich verhielt bzw. verhält es sich zum gleichen Thema im Judentum, weil nur G’tt ein Leben (durch natürlichen Tod, Krankheit oder Unfall) beenden kann: „Um Götzendienst zu vermeiden, um Inzest zu vermeiden und um die Ermordung eines anderen zu vermeiden, darf man sich töten lassen oder sich selbst das Leben nehmen.“[6]

Die Handvoll zu Ida Pollak vorhandenen Meldungen erzählen, dass sie zum Zeitpunkt ihres Todes 18 Jahre alt und „eine liebliche Blume im Saronsthale“ war, die „unter dem Sonnenblick mütterlicher Liebe und Sorgfalt emporgewachsen, genährt vom Thaue geistiger Bildung und Lehre, begünstigt von einem freundlichen Geschicke, von der Natur mit den reichsten Gaben geschmückt“ gewesen sei. Ida Pollak habe „in Dr. Kompert, dem zartbesaiteten Dichter, der dem Menschenherzen so innig lauscht, den Erzieher und Pfleger des Geistes, den Vater ihrer Seele, der wohl den leiblichen Vater an Zärtlichkeit überbietet“ gehabt.[7]

Das quietschende nicht-quietschende Fenster

Kolowratring Nr. 8 als Neubau der frühen 1860er Jahre © Arts Institute Chicago (public domain)
Kolowratring Nr. 8 als Neubau 1864/65 © Arts Institute Chicago (public domain)

Nichtsdestotrotz begab sich „Fräulein Pollak um die Mittagsstunde [des 24. März 1866] aus ihrem im dritten Stock in der Kompert’schen Wohnung gelegenen Zimmer in den vierten Stock zu Frau Winter. Sie fragte das Stubenmädchen nach Frau Winter, welche alsbald erschien und sich nach dem Begehren des Fräuleins erkundigte. Mit der größten Ruhe erwiderte die Gefragte: „Das oberhalb meines Zimmers befindliche Fenster Ihrer Wohnung macht stets einen so störenden Lärm; ich wollte Sie daher um Erlaubniß bitten, nach der Ursache dieses Lärms zu forschen.“ In der zuvorkommendsten Weise führte Frau Winter Fräulein Ida zu dem fraglichen Fenster. Die junge Dame ging anfangs mit langsamen Schritten gegen das Fenster zu, beschleunigte dann plötzlich ihren Gang, riß das Fenster weit auf, schwang sich auf die Brüstung und mit dem Rufe: „So ist’s recht!“ stürzte sie sich in den Hofraum hinab. Die zu Tode erschreckte Nachbarin sank ohnmächtig zusammen. Die entsetzliche That war mit einer solchen Hast vollbracht worden, daß sie geschehen war, bevor noch Frau Winter eine Ahnung von dem Vorhaben der unglücklichen Selbstmörderin hatte. Frau Winter gewann bald die nöthige Fassung und schickte ihr Mädchen in die Wohnung des Herrn Kompert hinab, um die Angehörigen der Unglücklichen von dem Geschehenen in Kenntniß zu setzen. Das im Comptoir des Herrn Skene beschäftigte Personal hatte den Sturz der Unglücklichen bemerkt und war in den Hofraum hinausgestürzt. Dort lag bereits der zeschmetterte Körper der jungen Selbstmörderin inmitten einer großen Blutlache, mit dem Gesichte auf dem Pflaster. Der Schädel war zertrümmert. Der linke Arm zerspittert. Ein leises Röcheln hob ihre Brust. Man trug die Sterbende an den Brunnen und begoß sie mit frischem Wasser. In demselben Moment trat Dr. Kompert in den Hofraum. Er kam von auswärts, wußte noch nichts von dem Vorgefallenen, und neugierig gemacht durch die große Anzahl der im Hofe befindlichen Personen war er hinzugetreten. Auch als er die blutige Masse bemerkt hatte, ahnte er nicht, daß es seine Tochter war, welche die vielen Leute so beschäftigte, daß sie den Neuhinzugetretenen nicht bemerkten. Plötzlich fällt sein Auge auf den Shawl des unglücklichen Mädchens. Mit einem Schrei des Entsetzens stürzt er über den unkenntlichen Ueberresten seines Kindes zusammen.“[8]

Wien, Kolowratring/Schubertring Nr. 8 © Screenshot Google Earth Susanne Wosnitzka
Wien, Kolowratring/Schubertring Nr. 8, Blick in den Innenhof © Screenshot Google Earth Susanne Wosnitzka

Motiv: Geisteskrankheit

Was für ein Horror! Wie es Idas leiblicher Mutter Marie und ihren Schwestern dabei ging, erfahren wir aus den Zeitungen nicht. Eine anschließende Obduktion im k. k. allgemeinen Krankenhaus ergab – und das ist für die weitere Bestattung bzw. das Ansehen der Leiche entscheidend – eine „Erweichung der Hirnhäute, daher ihre That als Folge einer Geistesstörung anzusehen ist.“[9] Also ein Suizid in Unzurechnungsfähigkeit und möglicherweise ohne vorher vorhandenes direktes oder lange geplantes und vorbereitetes Motiv. Allerdings schien Ida Pollak einige Tage vor ihrem Tod „sehr melancholisch und reizbar“ gewesen zu sein – andere Motive waren auch der Linzer Tages-Post nicht bekannt.[10]

Der Neuzeit nach erhielt Ida Pollak eine rührende und ergreifende Einsegnung von Dr. Adolf Jellinek (1820/21–1893), einem liberalen Rabbiner und Prediger des Leopoldstädter Tempels in Wien.[11] Wo genau Ida Pollak bestattet wurde, konnte ich (noch) nicht herausfinden, aber wahrscheinlich wie ihre Eltern im jüdisch-israelitischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs. Am Grabstein von Leopold und Marie Kompert finden sich aber keine Hinweise auf die Töchter Maries oder ggf. weiterer (gemeinsamer) Kinder. Dazu müsste in den weiteren Akten der Zentralfriedhofsverwaltung angefragt werden. Ich werde die Wikipedia-Artikel zu Leopold und Marie Kompert noch um die Namen der Töchter ergänzen, damit die Familie auch hier sichtbar wieder zusammen ist.

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Einzelnachweise
[1] Personalia. Gründer des Stadttheaters, abgerufen am 24. Mai 2025.
[2] Laut geni.com war Ida Pollak am 22. Februar 1848 in Prag geboren worden (abgerufen am 24. Mai 2025). Bei geni.com finden sich insgesamt drei Töchter bestätigt eingetragen. Von der ältesten Tochter Klara finden sich bis auf ein Geburtsjahr (1846) auch bei ancestry.de keine weiteren Einträge. Möglicherweise lebte sie nicht lange oder starb bereits im selben Jahr als Säugling.
[3] Allgemeine österreichische Gerichtszeitung, Nr. 131, 1. November 1862, S. 524, abgerufen am 24. Mai 2025.
[4] Amtsblatt zur Wiener Zeitung, Nr. 184, 26. Juli 1866, S. 146, abgerufen am 24. Mai 2025.
[5] Adolph Lehmann’s allgemeiner Wohnungsanzeiger, Jahrgang 1867, S. 165.
[6] Annette M. Boeckler: Mein Tod gehört nicht mir, in: Jüdische Allgemeine, 20. Januar 2014, abgerufen am 24. Mai 2025.
[7] Die Neuzeit, Nr. 13, 30. März 1866, S. 144f., abgerufen am 24. Mai 2025.
[8] Augsburger Postzeitung, Nr. 76, 29. März 1866, S. 510, abgerufen am 24. Mai 2025.
[9] Linzer Tages-Post, Nr. 72, 29. März 1866, S. 2, abgerufen am 24. Mai 2025.
[10] Linzer Tages-Post, Nr. 70, 27. März 1866, S. 2, abgerufen am 24. Mai 2025.
[11] Die Neuzeit, Nr. 13, 30. März 1866, S. 144f., abgerufen am 24. Mai 2025.