“Ein prächtiges Ding …”

Büste der Annette von Droste-Hülshoff vor der Meersburg © Susanne Wosnitzka 2013
Büste der Annette von Droste-Hülshoff vor der Meersburg © Susanne Wosnitzka 2013


English version here with thanks to Gabriella Di Laccio/Donne in musica!

Bei Annette auf der Meersburg:

“Mein Thurm ist köstlich, d. h. meinem Geschmacke nach einsam, graulich, – heimliche Stiegen in den Mauern – Fensterscheiben mit Sprüchen von Gefangenen eingeschnitten – eine eiserne Thür die zu Gewölben führt wo es Nachts klirrt und rasselt – und nun drinnen mein lieber warmer Ofen, – mein guter, großer Tisch mit Allem darauf, was mein Herz verlangt, Bücher, Schreibereyen, Mineralien, – und als Hospitant mein klein Kanarienvögelchen, das mir aus der Hand frisst und die Federn verschleppt. O, es ist ein prächtiges Ding, der runde Thurm! ich sitze darin wie ein Vogel im Ey, und mit viel weniger Lust heraus zu kommen…”

Einsame Dichterin

So schrieb Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848) nur wenige Jahre vor ihrem Tod 1844 auf der alten Meersburg am Bodensee. Dort hatte sie – dank der Heirat ihrer Schwester Jenny mit Joseph von Laßberg – ihr Nest gefunden und konnte sich selbst verwirklichen (fernab von ihrer fast allmächtigen, erdrückenden Mutter), indem sie nicht nur dichtete und ihr Umfeld teils kritisch-satirisch beäugte, sondern auch komponierte: hübsche Lieder für Singstimme und Klavier zum Hausgebrauch. Spielen und Singen konnte sie gut – zeitlebens wurde ihre Stimme mit der einer Angelica Catalani (1780–1849) verglichen, einer der damals berühmtesten Sängerinnen Europas. Außerdem war Annette eine der ersten Frauen bzw. überhaupt einer der ersten Menschen, der sich mit Musik des späten Mittelalters beschäftigte: So bearbeitete sie z. B. die Melodien des sog. Lochamer Liederbuchs (~1460) und schuf insgesamt vier Libretti zu Opern (fragmentarisch erhalten bzw. unvollendet).

Jugendtrauma

Mit Hilfe der Musik konnte sie vergessen: Die Schmach des sog. “Jugendtraumas”. Zwei junge Männer schlossen eine Wette ab, wer Annette wohl als erstes “herumbekäme”. Sie umwarben sie, und als sie sie “soweit” hatten, ließen sie sie eiskalt fallen. 12 Jahre lang mied Annette die Gegend, in der die Männer lebten. Und auch zu ihrem Ziehsohn Levin Schücking hatte sie kein Liebesverhältnis (was ihr immer wieder angedichtet wurde und wird): Er war “nur” ihre Muse. Bitter beklagte sich Annette in einem Brief, warum die Gesellschaft nicht einsehen kann, dass es auch platonische Beziehungen zwischen Männern und Frauen gibt.

Denn Annette liebte Frauen. Sie hatte eine Affäre mit der eigentlich an Adele Schopenhauer (1797–1849) vergebenen Numismatikerin und Archäologin Sibylle Mertens-Schaaffhausen, der schönen “Rheingräfin” (1797–1857). Mit Amalie Hassenpflug (1800–1871), der Schwägerin der einzigen Schwester der Brüder Grimm, lebte Annette eine On-Off-Beziehung – Seite an Seite liegen die beiden Frauen auch auf dem Meersburger Friedhof begraben, der noch ein paar Geheimnisse birgt, denen ich auf der Spur bin.

Annette als Meisterin der Camouflage

Annette war Meisterin der lesbischen Camouflage: Viele ihrer Gedichte verfasste sie für bzw. widmete sie Frauen – höchst erotische Traumgedichte, die sie aus Angst vor Entdeckung mit einem lyrischen Ich und Du ausstattete, die bis heute zumeist als heterosexuelle Rollen ausgelegt werden. Dazu trug auch Levin Schücking bei, der nahezu alle Frauenbeziehungen Annettes nach ihrem Tod aus ihrem Lebenslauf tilgte, um ein alleiniges Annette-Monopol zu besitzen. Die Forscherin Angela Steidele räumte mit diesem Klischee bereits vor über 10 Jahren auf, aber das Bild von Annette als “vertrocknete, alte, enttäuschte Jungfer” hält sich weiterhin hartnäckig.

Märchen-Autorin

Annette selbst steuerte zwei Geschichten zu den Märchen der berühmten Brüder bei: Schneewittchen und Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen, denn Annette liebte Schauergeschichten. Ab und an überkam sie in der Meersburg ein leichter Grusel – seit dem Mittelalter nahezu unverändert erhebt sich die Burg mumienhaft-vertrocknet über dem Bodensee, muffig-grau in ihren dunklen Winkeln und abgelebten Stuben.

Im Spätsommer 2013 war ich selbst nach längerer Zeit wieder dort, und es war ein Genuss, dort zu sein, wo Annette gelebt hatte, wo sie saß und schrieb und lachte und weinte, musizierte und dichtete und dem See lauschte, wenn er seine Geschichten vom Wasser erzählte…

http://de.wikipedia.org/wiki/Annette_von_Droste-Hülshoff (Abschnitt “…als Musikerin und Komponistin” von mir)

Buchtipps:
Angela Steidele: “Als wenn Du mein Geliebter wärest…”: Liebe und Begehren zwischen Frauen in der deutschsprachigen Literatur 1750–1850. Metzler 2003. Nicht mehr schändlich vergriffen, sondern jetzt online kostenlos erhältlich!
Angela Steidele: Geschichte einer Liebe – Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens-Schaaffhausen. insel 2011.
Elke WeigelDer Traum der Dichterin. Die Sehnsucht der Annette von Droste-Hülshoff. Gmeiner-Verlag 2015.
Karen Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer. Roman. KiWi-Verlag 2020.

Gerne können Sie auch meinen Vortrag über diese unbekanntere Facetten von Annette von Droste-Hülshoff buchen. Weitere Infos dazu finden Sie hier.

Text erstmals veröffentlicht am 18. September 2013 auf Facebook