Über die Donau – was Berblinger nicht schaffte, schaffte Madame Bittorf

Berblingers Flugversuch © Wikimedia.Commons (gemeinfrei)
Berblingers Flugversuch © Wikimedia.Commons (gemeinfrei)

Bittorf vs. Schneider von Ulm? Dieses Jahr würde der ‘Schneider von Ulm’, Albrecht Ludwig Berblinger (1770–1829) seinen 250. Geburtstag feiern – in Ulm soll er daher groß geehrt werden. Der Mann, der Pioniergeist besaß und vom Fliegen träumte und wegen widriger Umstände dann doch scheiterte. Nach einer erzwungenen Ausbildung zum Schneider – er wäre viel lieber Uhrmacher und Mechanikus geworden – entwickelte er erstaunlich arbeitende Bein- und Fußprothesen, die Vorbild für den Ulmer Chirurgen Johannes Palm (1749–1851) wurden, der als einer der ersten Ärzte überhaupt Chloroform und Äther zur Narkose einsetzte.

Berblingers bekanntestes Gerät ist ein Fluggleiter, mit dem er heimlich in den um Ulm liegenden Weinbergen übte, wo thermische Aufwinde für eine ideale Flugsituation vorhanden waren – aber nicht unten in der Stadt an der Donau, und genau das wurde ihm später zum Verhängnis. Wer solch ein Gestell durch die Stadt in die Weinberge trägt, bleibt nicht unbemerkt: Friedrich I. von Württemberg (1754–1816) hatte von Berblingers Versuchen buchstäblich Wind bekommen und wollte unbedingt einen Flug von ihm sehen, denn was heute für uns selbstverständlich erscheint, war damals eine unglaubliche Sensation.

Die Geschichte vor Madame Bittorf
Gebrüder Montgolfier in ihrer Montgolfière © Wikimedia.Commons (gemeinfrei)
Gebrüder Montgolfier in ihrer Montgolfière © Wikimedia.Commons (gemeinfrei)

Auch die Brüder Joseph Michel (1740–1810) und Jacques Étienne (1745–1799) Montgolfier waren von der Idee des Fliegens fasziniert gewesen. Als sie es tatsächlich schafften, Fluggeräte zu entwickeln, mit denen man in den Himmel aufsteigen konnte, war es soweit: Ein Hype ums Fliegen setzte weltweit ein, und es entwickelte sich ein regelrechter Wettbewerb, wer schneller, höher und weiter damit unterwegs sein konnte, vor allem mit Ballonen. In Augsburger Tageszeitungen der Jahre 1746 bis nun 1871, die ich für meine Dissertation auf Musik- und Kulturnachrichten untersucht habe, kamen auch hunderte Meldungen zu Ballonfahrern zum Vorschein. Und zu Ballonfahrerinnen. Viele davon noch gänzlich unbekannt mit unbekannten Anekdoten, Fluggeschichten, Absturz- und Brandtragödien. Über diese Geschichte(n) werde ich zu gegebener Zeit in einer eigenen Publikation berichten. Denn auch zur Augsburger Ballonfahrt- und Fluggeschichte vor Madame Bittorf kam Neues ans Tageslicht.

Ulm und die Welt im Flugrausch

Zurück nach Ulm. Berblingers Wikipedia-Artikel[1] berichtet folgendermaßen von der sich abzeichnenden Tragödie: „Ursprünglich wollte Berblinger seine Flugkünste erst am 4. Juni 1811 vorführen und schlug dazu einen Start vom Hauptturm des Ulmer Münsters vor, dessen Höhe zu diesem Zeitpunkt noch bei 100 Metern lag. Die Ulmer Ratsherren lehnten Berblingers Vorschlag jedoch ab. Sie trauten seinen Flugkünsten nicht und verlangten deshalb den Start von der 13 Meter hohen Mauer der Adlerbastei an der Donau. Berblinger stimmte diesem Startplatz schließlich zu, ohne sich der möglichen verhängnisvollen Folgen bewusst zu sein. Um die Donau überqueren zu können, vergrößerte Berblinger die Absprunghöhe durch ein Gerüst auf 20 Meter.

Die Abreise des Königs am 31. Mai führte wohl dazu, dass Berblinger schon am 30. Mai starten sollte. Der König und viele Ulmer warteten auf seine erste Flugvorführung, doch Berblinger verschob seinen Start auf den nächsten Tag. Die historischen Schilderungen lassen darauf schließen, dass er an diesem Tag die völlig anderen Windverhältnisse bemerkte und auf Veränderung am nächsten Tag hoffte. Aus heutiger Sicht ist klar, warum er die von ihm benannte ‚Fliegekraft‘ unter seinen Flügeln nicht spüren konnte. Durch das relativ kalte Wasser der Donau entstehen Fallwinde, die durch die Mauern der Bastei noch verstärkt werden.

Im freien Fall

Am folgenden Tag, dem 31. Mai, trat er erneut zu einem öffentlichen Flugversuch an. Der König war schon abgereist, aber sein Bruder, Herzog Heinrich, und die Prinzen schauten zu. Allerdings hatten sich die Windverhältnisse innerhalb eines Tages nicht verändert. Das muss ihm bewusst geworden sein, denn er verzögerte den für 16 Uhr geplanten Start, mit der Hoffnung es könnte sich noch etwas verändern. Gegen 17 Uhr wurden die zahlreichen Zuschauer und auch Herzog Heinrich ungeduldig und drängten ihn, endlich mit seiner Vorführung zu beginnen. Ein umstehender Polizeidiener rempelte Berblinger schließlich an und das Verhängnis nahm seinen Lauf.

Aus diesem Überraschungsmoment heraus konnte er die erforderliche Anfangsgeschwindigkeit für den Gleitflug nicht erreichen und die Tragflächen seines Fluggerätes nicht in einem günstigen Anstellwinkel ausrichten. Die Fallwinde und der Start mit Rückenwind bescherten dem Traum vom Fliegen ein jähes Ende. Bereitstehende Fischer retteten ihn nach dem Absturz unter dem Gejohle der vielen Zuschauer aus den Fluten der Donau.

Der Absturz mit seinem Flugapparat war auch mit einem sozialen Absturz verbunden. Man bezeichnete ihn nun als Lügner und Betrüger, was zur Folge hatte, dass auch die Kunden seiner Schneiderwerkstatt ausblieben. Mit 58 Jahren starb er im Hospital völlig verarmt und mittellos an Auszehrung. Berblingers Flugapparat war aus ‚indischem Rohr‘, vermutlich Bambus, fiel unter die Kontinentalsperre und wurde zusammen mit anderen englischen Waren wenig später unter amtlicher Aufsicht auf einem großen Scheiterhaufen verbrannt.“ Einen Nachbau seines Flugapparats kann man heute im Treppenhaus der Ulmer Rathauses bewundern.

Ballonfahrerinnen im Aufwind
Tod von Madame Blanchard © Wikimedia.Commons (gemeinfrei)
Tod von Madame Blanchard © Wikimedia.Commons (gemeinfrei)

Soweit die Vorgeschichte. Seitdem wurde über den gescheiterten ‘Schneider von Ulm’ gelacht, dessen Schicksal immer wieder für ähnliche Fälle herbeigezogen wurde. Dass es da allerdings jemanden gab, der nur kurze Zeit nach Berblinger erfolgreich über die Donau flog, ist in und um Ulm hingegen so gut wie unbekannt. Warum eigentlich? Weil “stilles Siegen” weniger spektakulär ist als krachendes Scheitern? Weil dieser Mensch erfolgreich war oder weil sich alles nicht unmittelbar in der Stadt ereignete? Weil dieser Mensch eine Frau war und Frauen in dieser Richtung verhältnismäßig wenig zugetraut wurde? Und nach dem Scheitern eines Mannes schon gleich gar nicht? Wer also war Madame Bittorf?

Der bislang bekannten Geschichte der Ballonfahrerinnen nach war die erste Ballon fahrende Frau die Französin Elisabeth Thible (Lebensdaten unbek.), die 1784 in Lyon zum ersten Mal aufstieg.

Nicht die erste

Sie war aber nicht die erste Frau, die sich mit der Kunst der Ballons befasste: Am 1. Januar desselben Jahres ließ Isabelle de Charrière (1740–1805) in Lausanne einen selbstgebauten Ballon aus Papier aufsteigen, worüber auch in einer Augsburger Tageszeitung berichtet wurde. Diesen Fakt habe ich einst in ihren verlinkten Wikipedia-Artikel eingearbeitet. Es wurde wieder entfernt. So viel zum Umgang mit Frauengeschichte in der Wikipedia. Das passiert leider immer wieder.

„Damit die Ehre, Luftkugeln zu verfertigen, dem nämlichen Geschlechte nicht länger allein vorbehalten seyn möchte, so hat die Frau von Charriere am 1. Jan. [1784] zu Lausanne eine Luftkugel aus Seidenpapier von 9. Schuhen im Durchschnitt mit erwünschtem Erfolg steigen lassen.“[2]

Eine weitere sehr bekannte Ballonfahrerin war die Französin Sophie Blanchard (1778–1819), die zusammen mit ihrem Mann auftrat. Nachdem dieser 1809 mit einem Ballon tödlich verunglückt war, musste sie ihren Lebensunterhalt alleine verdienen und wurde dadurch zur ersten professionellen Ballonfahrerin, die von Napoleon Bonaparte (1769–1821) zur ‘kaiserlichen Aeronautin’ befördert wurde. Bei einer Flugschau wollte sie ein Feuerwerk in ihrem Ballon zünden, doch eine Rakete hatte eine Fehlzündung, die den Ballon in der Luft in Brand setzte. Sophie Blanchard stürzte vor den Augen des entsetzten Publikums tödlich ab.

Viel Unbekanntes

Leider ist derzeit noch nicht viel über Madame Bittorf bekannt, nicht einmal ihre Lebensdaten. Sie stammte aus Nürnberg und war nach Wilhelmine Reichardt (1788–1848) die zweite bekannte deutsche Ballonfahrerin. Ihre zweite bekannte Luftfahrt fand in Augsburg während einer Tournee durch die Lande statt. Bereits seit Februar 1811 in der Stadt, wo in der ehemaligen Jesuitenkirche auch die Fluggeräte der Bittorfs ausgestellt waren[3], startete sie nach mehreren zuvor gescheiterten Versuchen durch ungünstiges Wetter[4] am 5. Juli 1811[5] vor dem Roten Tor und landete erfolgreich und unbeschadet zwischen Neusäß und Täfertingen und wurde von einem trompetenden Postillon und unter Vivat-Geschrei nach Augsburg zurück geführt, wo sie vom Fürstbischof von Augsburg – Clemens Wenzeslaus (1739–1812) – und seiner Schwester Maria Kunigunde von Sachsen (1740–1826) ansehnlich beschenkt wurde. Man achte auf dieses Datum, denn dieses Ereignis fand nur einen Monat nach Berblingers Scheitern statt. Interessant ist, dass in der Augsburgischen Ordinari Postzeitung von beiden Ereignissen in einer Ausgabe gleichzeitig berichtet wird. Möglich ist daher, dass auch Frau Bittorf durch Berichte in Augsburger und/oder Nürnberger Zeitungen von Berblingers Flugversuch gehört hat, was sie gegebenenfalls angespornt haben könnte, zu beweisen, dass ein Überfliegen der Donau doch möglich sein kann.

Auf Reisen
Madame Bittorf steigt in Augsburg auf © Bib. nat. de France, G145789 (gemeinfrei)
Madame Bittorf steigt in Augsburg auf © Bib. nat. de France, G145789 (gemeinfrei)

Nach diesem großen Erfolg reiste sie zusammen mit ihrem Mann und all ihren Gerätschaften weiter nach Ulm. Einen Ballon herzustellen, zu füllen und aufzurichten war ein sehr schwieriges Unterfangen, da in dieser Zeit nicht nur mit heißer Luft gearbeitet wurde, sondern mit „brennbarer Luft“, also mit Gas. Und zwar mit Wasserstoff. Hochbrennbarem Wasserstoff, wenn dieses Gas mit Sauerstoff zusammenkommt. Oft waren auch die Materialien, mit denen der Stoff des Ballons abgedichtet wurde, brennbar. Was in einem Ballon in der Luft und bei der Verarbeitung am Boden nicht ungefährlich ist. Zahlreiche Unglücksmeldungen in historischen Tageszeitungen zeugen davon. Um Wasserstoff herstellen zu können, wurden Eisenspäne mit verdünnter Schwefelsäure zum Reagieren gebracht, was die Brüder Montgolfier in Holzfässern umsetzten.[6] Der Abbildung nach schien Madame Bittorf einen Heißluftballon gehabt zu haben. Ob das kleine ‚Nest‘ zwischen Behältnis und Ballon ausgereicht hat, um die Hülle zu füllen, den Ballon aufzurichten und oben zu halten? Wie genau sind solche Abbildungen? Was kann man aus ihnen alles herauslesen? Jedenfalls startete sie einen Ballon aus Papier – angetrieben durch mitgeführtes Brennholz – am 12. Oktober 1811 von der Ulmer Friedrichsau aus und landete auf der anderen Seite der Donau, begleitet von Musik und dem begeisterten Applaus einer Menschenmenge am gegenüberliegenden Donauufer.[7] Einen Original-Ballon aus dem späten 18. Jahrhundert aus Segeltuch – den Intrépide (Der Furchtlose/Unverzagte) – findet man im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien sowie den Ad Astra (Zu den Sternen) im Städtischen Museum Braunschweig. Auch das Ballonmuseum Gersthofen ist zu all diesen Themen sehr empfehlenswert.

Was möglich wäre

Im Jahr 2011 plante Augsburg eine Performance anlässlich des 200. Jahrestages der Ballonfahrt einer Frau mit dem Titel Madame Bittorf hebt ab… (Regie/Inszenierung: Stefan Schön)[8], die wetterbedingt auf 2012 verschoben wurde, aber offenbar leider nie zustande kam. Diese wohl ausgearbeitete Performance könnte man für Ulm reaktivieren. Gerade das diesjährige Berblinger-Jubiläum wäre ein hervorragender Anlass, auch Madame Bittorf mit ihrer herausragenden Leistung in die Ulmer Stadtfeierlichkeiten einzubeziehen und auch ihr Wirken entsprechend zu würdigen. Diese Geschichte und die Leistung dieser bemerkenswerten Frau fehlen bislang auch im Wikipedia-Artikel zur Ulmer Stadtgeschichte. Ulm fehlt generell ein ulmwiki, also ein Webprojekt à la Wikipedia, das als virtuelles Handbuch und lebendiges Online-Lexikon zum Thema Ulm und Ulmerïnnen dient. Eine weitere Idee wäre, ihren Flug so originalgetreu wie möglich nachzustellen oder sie als neue historische Figur künftig beim bekannten Ulmer Fischerstechen einzusetzen, vielleicht auch zusammen mit der heute kaum noch bekannten Ulmer Komponistin Barbara Kluntz (1661–1730). In Ulm geht noch einiges.

+++Update 11. Februar 2022+++
Ein neuer Fund in einer historischen Augsburger Tageszeitung weist darauf hin, dass der erste Mensch in Deutschland, dem 1786 eine Ballonfahrt gelang, eine Frau war. Recherchen dazu folgen.

Literaturtipps
Heinz Straub: Fliegen mit Feuer und Gas. Aarau 1984.
Wolf-Dieter Hepach/Wolfgang Adler: Flugpioniere in Ulm 1811–1911. Ulm 2010.

****************************

[1] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Albrecht_Ludwig_Berblinger (Stand: 23.01.2020).
[2] Vgl. Augsburgische Ordinari Postzeitung, Nro. 33. Samstag, den 7. Febr. Anno 1784, S. 4.
[3] Vgl. ebda., Nro. 40. Freytag, den 15. Febr. Anno 1811, S. 4: „Augsburg. […] Unterzeichneter macht hiedurch bekannt, daß seine große ärostatische Maschine Sonntag den 17. Febr. und die ganze Woche hindurch in der ehemaligen Jesuitenkirche noch zu sehen ist, wozu er alle Liebhaber dieser Kunst höflichst einladet, indem der majestätische Anblick schon großen Beyfall gefunden, besonders jetzt, weil er nun ganz vollständig da steht. Es empfiehlt sich ergebenst Bittorf, Mechanikus.“ Möglich wäre, dass die Bittorfs ihre Fluggeräte auch entsprechend in Ulm zur Schau stellten.
[4] Div. Meldungen in der Augsburgischen Ordinari Postzeitung.
[5] Vgl. Augsburgische Ordinari Postzeitung, Nro. 135. Donnerstag, den 6. Juni. Anno 1811, S. 3f.
[6] Vgl. http://www.chemieunterricht.de/dc2/schwefel/s-ballon.htm (Stand: 23.01.2020)
[7] Vgl. https://www.augsburger-allgemeine.de/neu-ulm/Fluggeschichte-wurde-in-Ulm-geschrieben-id15065191.html (Stand: 23.01.2020)
[8] Vgl. https://www.daz-augsburg.de/madame-bittorf-hebt-erst-2012-ab/ (Stand: 23.01.2020)

Ein Gedanke zu „Über die Donau – was Berblinger nicht schaffte, schaffte Madame Bittorf“

Kommentare sind geschlossen.