Es war einmal ein Mann, der – in Pelz gehüllt – an einem Tag im Herbst des Jahres 1856 im kleinen Weinheim an der Bergstraße (zwischen Frankfurt/Main und Mannheim gelegen) für einen Straßenauflauf sorgte. Eigentlich sorgte nicht der Mann in Pelz für Furore (der niemand Geringeres als der berühmte Komponist Gioachino Rossini war), sondern womit er reiste: Mit der Extrapost, das heißt einer extra schnellen Kutsche mit vier Pferden für geballte Vorwärtskommkraft und mit zwei Postillonen auf dem Kutschbock, die nicht überall hielt.
Hoch auf dem gelben Wagen
In der Zeit der Romantik waren Postkutschen ein beliebtes Motiv von Maler:innen. Solche Kutschen scheinen um 1856 offenbar aber bereits eine Seltenheit gewesen zu sein; erst wenige Jahre zuvor hatten moderne Eisenbahnen damit begonnen, die althergebrachten Reise- und Postkutschen nach und nach zu verdrängen. Zumindest auf den Straßen, die auf den kürzesten Strecken zwischen A und B mit Schienen für das Dampfross versehen wurden. Mit dem Zug kam man schneller und bequemer voran als in einer Kutsche, deren Pferde zudem an den einzelnen Wegstationen ausgetauscht und/oder umgespannt werden mussten. Die Cholera kam dadurch auch schneller von A nach B, aber das ist eine andere Geschichte.
Rossini im Klangrausch?
Jedenfalls hat sich Rossini (1792–1868) in jenem Spätsommer oder Frühherbst des Jahres 1856 in Frankfurt/Main aufgehalten. Nix Genaues weiß man nicht, aber ihm müssen die deutschen Männerchöre so gefallen haben, dass er vielleicht einen live hören wollte. Diese Männerchöre waren damals so berühmt und gefragt, dass sie – wie der Kölner Männergesangverein – auch auf die Industrie- bzw. Weltausstellung nach London 1851 und Paris 1855 eingeladen wurden. Der Kölner Männergesangverein konnte durch seine Spendeneinnahmen durch Konzerte vor Queen Victoria und ihrer Familie so den Weiterbau des Kölner Doms mitfinanzieren. Auch Augsburg hatte mehrere solcher Männergesangvereine. Der berühmteste und größte war die von Johannes Rösle (1813–1891) gegründete und geleitete Liedertafel. Der Begriff Liedertafel (oder Liederkranz) war damals deshalb beliebt – und daran erkennt man auch die frühesten Chorvereinigungen –, weil man damals dachte, dass es sich mit Männern in Gruppen um einen Dirigenten wie mit den Gralsrittern um König Artus’ Tafel verhielt.
Reiste Rossini extra für solch einen Chor nach Frankfurt? Was hatte er dort zu tun? Und von woher kam er?
To bad or not to bad
Nicht alle dieser Fragen können beantwortet werden, aber diese: Rossini hielt sich 1856 als Kurgast in Bad Wildbad[1] im Schwarzwald auf, weil er auf Bäderreise war[2]. Bad Kissingen war zum Beispiel auch so ein berühmtes Bad, in dem sich besonders gerne Kaiserin Elisabeth von Österreich aufhielt. In solchen Kur- und Heilbädern traf sich die Elite der damaligen Welt – sehen und gesehen werden.
Auf dieser Reise mag sich Rossini auch wieder neue Inspiration und Lebenskraft geholt haben; denn nach dieser Reise war er so fit, um sich wieder ins Komponieren stürzen zu können. Mit seiner Kunst hatte er zuvor Welthits geschrieben, wie mit dem Barbier von Sevilla, La Cenerentola, der Diebischen Elster oder Wilhelm Tell, wovon bis auf La Cenerentola alle anderen genannten Opern auch im Augsburger Stadttheater liefen, und zwar noch lange nach ihren Erstaufführungen als zeitlose Publikumslieblinge.
Anekdoten-Fundstück
Jedenfalls fuhr Rossini von Frankfurt/Main aus (zurück?) in den Süden. Eine im Augsburger Tagblatt heute von mir dazu aufgefundene Anekdote erzählt davon:
„Weinheim, 2. Sept. Diesen Mittag zwischen 12 und 1 Uhr ist der Maestro Rossini, der am Morgen um 6 Uhr von Frankfurt abgereist, hier durchgekommen und hat, nach Umspannung der Pferde, seine Reisen nach Heidelberg fortgesetzt. Bekanntlich reist der gedachte Herr nie mit der Eisenbahn, sondern immer mit Extrapost: vier Postpferde, und zwei Postillone. Eine solche hier ganz unbekannt gewordene Erscheinung hatte, namentlich als das Fuhrwerk langsam den Markt hinankletterte und man in der Ecke der Chaise einen im Pelze lehnenden Mann erblickte, einen ziemlichen Auflauf veranlaßt. Irgend ein russischer Großer, ein Malakoffvertheidiger[3] mußte es seyn, der in’s Bad oder aus dem Bade reiste. Wie wir vernahmen, soll den großen Musiker die Macht der deutschen Chöre in Frankfurt mächtig erschüttert haben; hier war es unstreitig die Virtuosität deutscher reitender Postillone auf dem Posthorn, die ihm beim Anfahren vor dem Posthofe in Athem versetzten, so daß selbst die auf dem Bocke sitzende Dienerschaft sich eines bescheidenen Lächelns nicht erwehren konnte. Es darf auch von der Thurn= und Taxis’schen Postverwaltung nicht verlangt werden, daß sie neben der Eisenbahn noch reitende und blasende Postillone unterhalte.“[4]
Weinheim mit neu-altem Promi
Rossini als Old-School-Reisender. Hat er der modernen Technik nicht über den Weg getraut? Hin und wieder gab es teils verheerende Eisenbahnunfälle mit vielen Toten, aber Kutschen wurden auch in dieser Zeit noch immer gerne überfallen. Genoss er die Langsamkeit des Reisens? Das Zeithabenkönnen, um Landschaften genießen zu können? Die Wege hintenrum über die sonst wenig bekannten Dörfer und Strecken? Oder vielleicht war er ja ein bisschen besessen vom Klang der Posthörner – ein Genusshörer? Mehr zu Rossinis Eisenbahn-Aversion kann man auf der Webseite der Rossini-Gesellschaft nachlesen.
„Vor dem Posthofe“ – das war in Weinheim die heutige Alte Post, in der sich nun ein Feinschmeckerlokal befindet. Ob sich Rossini hier die Beine vertreten hat während des Pferdewechsels? Der beschriebene Auflauf lässt eher vermuten, dass er in der Kutsche geblieben sein dürfte.
„Hier wurde am 2. September 1856 die extraschnelle Postkutsche des Komponisten Gioachino Rossini begafft“ – das wäre mal eine andere Art des Erinnerns.
+++ Update 19. September 2024 +++
In einer weiteren Zeitung fand ich eine nähere Beschreibung eines Panikanfalls Rossinis aus dem Jahr 1855 angesichts einer sich nähernden Eisenbahn:
“Der berühmte Rossini, welcher vor seinem Tode noch einmal Paris und seine dortigen zahlreichen Freunde sehen will und aus Abscheu vor allen Eisenbahnen und Dampfschiffen in kleinen Tagreisen in einer Postchaise reis, ist vorgestern von Nizza in Aix angekommen, ohne Marseille zu berühren. Die zahlreichen Verehrer seines genies in Marseille hatten ihm eine Ovation bereitet, welcher er gezwungen war auszuweichen, denn seine Krankheit ist, wie allgemein bekannt, eine bis auf den höchsten Gipfel gestiegene Reizbarkeit der Nerven. In Aix angekommen, entschloß er sich doch, der langen Reise überdrüssig, die Eisenbahn bis nach Paris zu nehmen. Er ließ sich in seinem Wagen nach dem zwei Stunden gelegenen Dorf Rognac fahren, wo die Bahn von Marseille nach Paris vorbeiführt. Im Augenblick, als er in Rognac ankam, näherte sich der Wagenzug auf der Eisenbahn, er erblickte von weitem den Dampf der Locomotive, hörte das Saufen derselben und das Pfeifen des Mechanikers. Da wurde er todtblaß, ein heftiges Zittern durchbebte seinen ganzen Körper, er befand sich in der größten Aufregung, und uunter diesem fieberhaften Einfluß befahl er dem Postillon wieder nach Aix zurückzukehren. Dort angekommen, wechselte er die Pferde, und sit nun fest entschlossen, bis nach Paris im Wagen und in kleinen Tagreisen zu fahren. Die wenigen Personen, welche das Glück hatten, den berühmten Maestro während seines kurzen Aufenthalts in Aix zu sehen, entwerfen die traurigsten Schilderungen von seinem zerrütteten melancholischen Aussehen.”[5]
Einzelnachweise
[1] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Rossini_in_Wildbad (Stand: 16.02.2021).
[2] Vgl. https://www.rossinigesellschaft.de/b01_leben.htm (Stand: 16.02.2021).
[3] Fort Malakow, südöstlich der Stadt Sewastopol auf der Krim gelegen, das 1855 im Krim-Krieg heftig umkämpft war.
[4] Augsburger Tagblatt, Nr. 249, 10. September 1856, S. 1720.
[5] Augsburger Postzeitung, Nr. 160, 21. Mai 1855, S. 559.
Beitragsbild: Gioachino Rossini, Fotografie von Étienne Carjat 1865 © wikimedia.commons (gemeinfrei)
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