
Heute erscheint bei Berlin Classics diese grandiose Produktion der Pianistin Ragna Schirmer – die Sie bestimmt schon als Clara-Schumann-Expertin kennen – mit der wohl zum ersten Mal korrekt (!) eingespielten Fantasie G-Dur der blinden Wiener Komponistin Maria Theresia Paradis (1759–1824) auf dem einzigen (!) erhaltenen Böhm-Hammerflügel mit Orgelregister (1821). Korrekt deshalb, weil sich in einer moderneren Print-Version dieses Werks musikalische Fehler befinden. Beim Einstudieren der Noten bemerkte Ragna Schirmer diesen Umstand und hat mich daraufhin wenige Tage vor der CD-Aufnahme, die u. a. in Augsburg im Kleinen Goldenen Saal mit der Hofkapelle München unter Leitung von Rüdiger Lotter stattfand – kontaktiert. Auf die Schnelle konnte ich ihr aus dem Repertoire des Archivs Frau und Musik eine Kopie der Originalhandschrift (die sich in der ÖNB in Wien befindet) besorgen, die dann für die Einspielung auch verwendet werden konnte.
Nah am Original
Dass Ragna Schirmer ein Originalinstrument für die Aufnahmen wollte – bestens! Im CD-Booklet schreibt sie dazu: „Da sich die G-Dur-Fantasie der Paradis im Mittelteil auf ein Andante von Abbé Georg Joseph Vogler bezieht und dieser Teil separat sogar als Orgelstück herausgegeben wurrde, habe ich mich entschieden, einen Flügel von Joseph Böhm zu verwenden, der über eine eingebaute Orgel verfügt, die ich zu- und ausschalten kann, während ich spiele.“ Für die Einspielungen der anderen Werke war ein sehr feiner Nachbau eines Anton-Walter-Flügels von ca. 1781 des Greifenberger Instituts für Musikinstrumentenkunde im Einsatz, also ein Klang aus Maria Theresia Paradis‘ Lebenszeit!
Es lohnt sich also sehr, die CD zu gönnen wegen der tollen Zusatzinformationen, die es bei Streamingdiensten nicht gibt. Abbé Vogler war zudem Maria Theresia Paradis‘ großes Vorbild! Hier passt also alles zusammen, was auch zusammengehört! Hier gibts auch noch ein Interview von BR Klassik (12. Mai 2025) mit Ragna Schirmer zu weiteren Feinheiten der historischen Flügel und was Maria Theresia Paradis so besonders macht.
Spontanes Paradis
Jedenfalls lud mich Ragna Schirmer zu ihrem Augsburger Paradis-Konzert (Augsburger Allgemeine, 8. September 2024) ein, vor dem ich spontan einen kurzen Einführungsvortrag zu Maria Theresia Paradis‘ Augsburg-Bezug und zum Augsburger Konzertleben ihrer Zeit geben durfte, denn diese so wichtige Künstlerin war auf Durchreise kurz vor Silvester 1783 während ihrer Europa-Tournee in der Lechstadt, und zwar fast zeitgleich mit ihrem Lehrer Antonio Salieri, den ich dort als Übernachtungsgast in der Goldenen Traube auf Durchreise nach Paris zu einem eiligen Auftrag erstmals nachweisen kann. Maria Theresia Paradis selbst nächtigte mit ihrer Mutter im Weißen Lamm, wo noch eine Gedenktafel zu ihrem Aufenthalt und dem Beethovens – neben Goethe und Mozart – fehlt:
„Ihre das Konzert einleitende Ouvertüre zum (ansonsten verschollenen) Singspiel Der Schulkandidat ließ sofort aufhorchen. […] Wie Ragna Schirmer in der wunderbar zwischen volksliedhafter Einfachheit und dramatischer Eskalation mäandernden Fantasie das Potenzial von Maria Theresia Paradis vorführte, wurde vom Publikum zu Recht bejubelt. Mozarts für Paradis geschriebenes Klavierkonzert B-Dur KV 456, eher selten zu hören, machte zuletzt durch die überragende Tastenkunst von Ragna Schirmer und die satte Klangsinnlichkeit von Rüdiger Lotters Hofkapelle den Porträtabend perfekt. Beifallsstürme.“
Auf der CD finden sich auch das recht selten gespielte Mozart-Klavierkonzert Nr. 18 B-Dur KV 456, das er für sie geschrieben und nach Paris bzw. London hinterherschicken ließ, sowie das Konzert für Klavier und Streicher Nr. 4 G-Dur von Joseph Haydn (mit extra für Ragna Schirmer neu komponierter Kadenz von Timo Jouko Herrmann), das sie auf ihrer Reise, die sie bis nach London führte, gespielt hat. Außerdem einleitend Maria Theresia Paradis‘ Ouvertüre zu ihrem Singspiel Der Schulkanditat (1792), dem leider kein Erfolg beschieden war. Aus meiner Feder findet ihr im CD-Booklet den biographischen Teil.
Pionierin der Blindenschrift
Diese CD-Produktion steht auch und besonders im Zeichen der Braille’schen Blindenschrift, die dieses Jahr seit 200 Jahren existiert. Erfunden hat die Punkteschrift Louis Braille, der als blinder Betroffener eine heute universelle Schriftsprache damit schuf. Diese kommt aber nicht von ungefähr: Als Maria Theresia Paradis sich für einige Zeit in Paris aufhielt, wo sie auch zusammen mit Königin Marie Antoinette konzertierte, war auch Valentin Haüy im Publikum, der sich mit der Idee einer noch zu gründenden Blindenschule herumschlug, aber nicht recht wusste, wie er als Sehender darin lehren sollte.
Als er Maria Theresia Paradis danach fragte, wie sie das genau mache mit dem Briefe- und Notenschreiben, zeigte sie ihm ihr System – einen Setzkasten –, das sie mit dem berühmten Mechaniker Wolfgang van Kempelen („Schachtürke“-Automat) und dann auch mit ihrem Lebensgefährten Johann Riedinger hin zu einem Noten-Griffbrett weiter entwickelt hatte: Also etwas zum Ertasten der Notenwerte durch verschiedenartige Ausprägungen einer Oberfläche – für ihre blinden Schülerinnen zum buchstäblichen Be-Greifen. Davon begeistert, griff Haüy dieses System auf, das sein Schüler Braille dann vervollkommnete. Daher ist Maria Theresia Paradis eine wahre Pionierin des Blindenschriftsystems, das wir heute kennen! Mehr dazu – auch zu Maria Theresia Paradis‘ zeitweiser Heilung als riesen Sensation – können Sie hier nachlesen.
Ragna Schirmer und ich waren im Januar 2025 in Wien vor Ort und dort auf den Spuren von Maria Theresia Paradis, so zum Beispiel vor ihrem ehemaligen Wohnhaus am Franziskanerplatz Nr. 1, in der Augustinerkirche, wo sie regelmäßig Orgel spielte und sang und auch Kaiserin Maria Theresia von sich überzeugte und auf dem St. Marxer Friedhof, wo ihr Grab nur leider nicht mehr erhalten ist. In der Sammlung alter Musikinstrumente des Kunsthistorischen Museums sahen wir – neben Flügeln aus dem Besitz Clara Schumanns und aus der Werkstatt von Beethovens Klavierbauerin Nannette Streicher – Maria Theresia Paradis‘ originales als auch nachgebautes Griffbrett: Letzteres konnte man selbst austesten bzw. austasten. Das Highlight der Kurzreise aber war der Besuch der Wien-Bibliothek im Rathaus, wo wir das Original von Maria Theresia Paradis‘ sogenannten Stammbuch anschauen und darin blättern durften, das nun restauriert wird. Außerdem ist in der nun neuen Ausstellung des Wien Museums endlich die restaurierte Wachsbüste von Maria Theresia Paradis zu sehen, die sich einst in einer Blindenschule befand. Ihr quasi fast lebendig von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen, war sehr faszinierend.
In ihrem Stammbuch befinden sich Hunderte Eintragungen von Leuten, die ihr im Lauf ihrer Reise und auch noch danach begegnet sind, sowie Zeichnungen, die sie selbst darstellen. Eine davon – angefertigt von ihrer Schülerin Fanny Diwald – findet sich als Coverbild auf der CD. Fanny Diwald war die Nichte ihrer Haushälterin; dieser wohl letzten Schülerin hat Maria Theresia Paradis auch ihren Joseph-Brodmann-Flügel vermacht, der heute als verschollen gilt. Weil Maria Theresia Paradis sehr verarmt gestorben ist, wurden nach ihrem Tod viele Gegenstände, die sich in ihrem Haushalt befanden, verkauft. Darum existiert heute nur noch ein Bruchteil von ihrem Leben und Schaffen.
P.S.: Ja, Maria Theresia Paradis war nicht adelig. Dass man sie zu Lebzeiten als „von Paradis“ bezeichnete, war nur eine Art Ehrenbezeugung. Hermann Josef Ullrich hat diesen angeblichen Adelsstand bereits in den 1960er Jahren eindeutig widerlegt.
Zum Weiterlesen
♣ Susanne Wosnitzka: Sehen im Nicht-Sehen. Die Geschichte der Maria Theresia Paradis (bzw-weiterdenken.de)
♣ Marion Fürst/Barbara Kollenbach: Maria Theresia Paradis (Instrumentalistinnen-Lexikon Sophie Drinker Institut)
♣ Marion Fürst: Maria Theresia (von) Paradis (MUGI)
♣ Marion Fürst: Maria Theresia Paradis. Mozarts blinde Zeitgenossin. Köln (Böhlau) 2005.
♣ Hermann Josef Ullrich: Maria Theresia Paradis‘ große Kunstreise, in: Österreichische Musikzeitschrift. Bd. 19, Heft 9. Wien 1964, S. 430ff. (Anm.: diese historische Forschung ist leider nicht barrierefrei)