Elfenbein. Der heute im Neuzustand aus Tier- und Artenschutzgründen verbotene Werkstoff war in den vergangenen Jahrhunderten besonders für Kunstanfertigungen kostbarstes exotisches Arbeitsmaterial. Die ältesten bislang bekannten Kunstwerke aus Elfenbein sind die sog. Venus vom Hohlefels und der sog. Löwenmensch (allerdings ohne Mähne), die rund 40.000 Jahre alt sind und die man im Tal der Ur-Donau bei Schelklingen gefunden hatte. Nicht weit davon befindet sich das kleine ehemalige Reichsstädtchen Blaubeuren mit seinem bekannten Blautopf, der auch durch die Erzählung von Eduard Mörike (1804–1875) der darin aus Sexismus heraus verbannten Schönen Lau berühmt wurde, und das ehemalige Kloster, in dem auch Friedrich Hölderlin (1770–1843) sein Abitur ablegte.
Augsburg als Elfenbeinzentrum
Dieses ehemalige Benediktinerkloster ist nicht nur berühmt wegen seiner ehemaligen Bewohner, sondern für seinen 1494 fertiggestellten Hochaltar, deren Figuren in der Werkstatt des Ulmers Michel Erhart (um 1440/45–nach 1522) und wahrscheinlich auch von dessen Sohn Gregor (um 1465–1540) geschaffen wurden. Letzterer war später Bildschnitzer und Steinbildhauer in Augsburg, und Augsburg hatte – neben München und Florenz – einen legendären Ruf als Schöpferin von Elfenbein-Intarsien und ganzer Truhen aus Elfenbein.
Eine der Augsburger Sensationen des 19. Jahrhunderts, die bis zum Erscheinen dieses Blogtexts offenbar komplett vergessen ist, war ein aus Elfenbein gefertigter Altar: Ein Nachbau des berühmten Blaubeurer Hochaltars. Doch wo befindet sich dieser heute? Eine forensisch-geschichtliche Spurensuche beginnt.
Von A nach B
Von Augsburg aus machte sich im Jahr 1858 ein von der Kunstgeschichte offenbar bislang noch nicht beachteter Elfenbeindrechsler auf nach Blaubeuren: Franz Gremser, der 1833 in Augsburg geboren wurde, bei einem Drechsler sein Handwerk erlernte und sich später auf die Holzbildhauerei verlegte[1], entpuppte sich als hochinteressant: Diese Meldung im Augsburger Tagblatt ließ mich aufhorchen, über die ich im Rahmen meiner Forschungen zur Musikgeschichte stieß:
„Seit Sonntag hält sich hier im Gasthof zum Adler[2] ein junger anspruchsloser Mann Franz Gremser von Augsburg auf, der in hohem Grade ein seltenes Kunsttalent besitzt. Er beabsichtigt unsern berühmten Hochalter bis auf seine unscheinbarsten Theile in Elfenbein zu schnitzen und hat Proben hievon, nach der bekannten [Carl Alexander von] Heideloff’schen Abbildung[3] gefertigt, bei sich, die ein Kunstwerk erster Größe versprechen. Vom Kön[iglichen]. Ephorat ist ihm die Besichtigung des Hochaltars für die nöthige Zeit, die sich auf 8 Tage verlängern dürfte, freundlichst gewährt.“[4]
Wunderwerk incoming
Diesen Altar nachzuschnitzen? In Elfenbein? Was ist das Außergewöhnliches? Innerhalb von nur zwei Jahren muss Franz Gremser mit seiner Arbeit fertig gewesen sein. Hat er ihn 1:1 nachgeschnitzt? Und wie genau hat er nachgeschnitzt? Einer Meldung aus dem Jahr 1860 lässt sich entnehmen, dass seine Darstellung in verkleinertem Maßstab war:
„Von diesem berühmten Kunstwerke [dem Blaubeurer Hochaltar] hat Herr Gremser jun. dahier eine getreue Nachbildung in verkleinertem Maaßstabe in Elfenbein geschnitzt, auf welche wir uns alle Kunstkenner und Freunde hiemit aufmerksam zu machen erlauben. Der bescheidene Künstler, der seit zwei Jahren an diesem Werke arbeitet, wird nächster Tage die letzte Hand daran anlegen. Bei Besichtigung dieses Kunstwerkes waren wir erstaunt über die Großartigkeit, über die Correktheit sowie über die Zierlichkeit der Arbeit; ungerne trennten wir uns von deren Anblick, denn die Mannigfaltigkeit der Arabesken, die schlanke Gliederung des ganzen Baues, die Lieblichkeit der vielen Figürchen (wir zählten deren 44) fesseln das Auge des Beschauers, der bei tieferm Eingehen in die Einzelnheiten dieses Werkes ebenso erfreut über die Composition des Ganzen ist, als auch über die kunstfertige getreue Nachbildung. Wir gratuliren unserm Landsmann zu dieser schönen Arbeit, möge ihm der entsprechende Lohn dafür zu Theil werden. Unserem Erachten nach ist dies Werk vollkommen würdig in eine Kunstsammlung aufgenommen zu werden.“[5]
Altar zu höchsten königlichen Ehren
Nur wenige Tage nach dieser Meldung bzw. der Veröffentlichung seiner Arbeit hatte Franz Gremsers Werk die Ehre, von den bayerischen Königen Maximilian II. Joseph und Ludwig I. betrachtet zu werden, „Höchstwelche sich auf das anerkennendste über die eben so treue als kunstvollendete Nachbildung aussprachen.“[6]
Durch den Beifall der hohen Herrschaften wurde auch das weitere Land auf den Altar aus Elfenbein aufmerksam, und so machte sich Gremser Mitte März auf nach Stuttgart, wo er im dortigen Kunstverein ausstellen konnte.[7] Auch Augsburg hatte solch einen Kunstverein, der bedeutende Kunstwerke in einer eigenen Abteilung im Maximilianmuseum ausstellte. Gremsers Ruf als Schnitzmeister muss sich so verstärkt haben, dass er von seinem Altar Fotografien in München anfertigen ließ. Diese Fotografien waren so ausgezeichnet, „daß trotz der vielen kleinen Theile, welche namentlich die prächtigen Verzierungen dieses Altars aufzuweisen haben, doch alles, selbst die Physiognomien der Figuren, klar und deutlich in überraschender Weise wiedergegeben sind. Wir müssen gestehen, diese photographische Nachbildung ist unter Glas und Rahmen eine Zierde für jedes Zimmer.“[8]
Altar auf Wanderschaft
Franz Gremser muss seinen Altar in dieser Zeit auf weitere Wanderschaft geschickt haben, da in den Augsburger Blättern davon geschrieben steht, dass sich der Altar im Januar 1861 „nunmehr wieder bei seinem Verfertiger, wohnhaft in der Pfladermühle[9] dahier [Augsburg], aufgestellt“ befinde und jener „mit großer Bereitwilligkeit Jedermann gerne die Besichtigung gestattet.“[10]
Sein Elfenbein-Altar war auch für Augsburger Kunstverhältnisse so sensationell, dass er sogar auf eine noch weitere Reise ging. Die höchste Auszeichnung damals war, von Seiten der Stadt auf die Industrie- und Weltausstellung geschickt zu werden. Diese Ehre hatte zum Beispiel auch der Augsburger Klavierbauer Christian Then (1803–nach 1873), dessen Flügel in Augsburg auch von Clara Schumann (1819–1896) und Franz Liszt (1811–1886) gespielt wurden.[11] Christian Thens Tochter Käthchen (1837–1905) war zudem Clara Schumanns Schülerin und organisierte deren Konzerte in Augsburg. Christian Then wurde 1851 für seine Klavierbaukunst in London ausgezeichnet.
In andere Hände
Am 11. Juli 1862 erhielt auch Franz Gremser für seinen Altar eine goldene Preismedaille für sein Kunstwerk. Gleichzeitig mit dieser Meldung erfahren wir, „daß Hr. Gremser Aussicht hat, dieses Meisterstück in London verkaufen zu können.“[12]
Ist das ggf. der Grund, warum ich den Altar in Deutschland nirgends sonst finden konnte? Selbst die Leiterin der wissenschaftlichen Abteilung des Deutschen Elfenbeinmuseums in Erbach/Odenwald, Edda Behringer-Roßwinkel, konnte nicht weiterhelfen. Nach der Londoner Ausstellung 1862 wird jenes Elfenbein-Wunderwerk im Tagblatt und anderen Zeitungen jedenfalls nicht mehr erwähnt. Tatsächlich findet sich ein Beleg eines Verkaufs in England im Kunst- und Gewerbeblatt.[13]
Im Katalog der Londoner Weltausstellung hat sich eine Chromolithographie von Gremsers Altar erhalten.[14] Im englischsprachigen Aufsatz finden sich eine oberflächliche Beschreibung und Ausführlichstes zur Tradition solcher Tryptichen in Deutschland, nur leider keine Angaben zu Leben und Werdegang des Künstlers. Aber anhand des Fotos lässt sich die ungeheure Kunstleistung Gremsers ersehen. Vergleicht man Kopie und Original, so kann man auch verstehen, warum Gremser so viele Tage für detaillierte Studien in Blaubeuren verbrachte. Von Reliefs bis hin zu ganzen Figuren ist alles dabei. Nur in kleinen Details weicht er vom Original ab. So wirkt Gremsers Altar etwas gedrungener, besonders im feingliedrigen Aufsatz: Das Original strebt noch schlanker und leichter in die Höhe. Leider fand sich keine Ansicht des Altars in geschlossenem Zustand bzw. zu den Außenseiten.
Auf Spurensuche
Ein paar Hinweise zu Franz Gremsers weiterem Schaffen finden sich in verschiedenen Zeitungen: So wurde er 1862 von der Augsburger Liedertafel beauftragt, einen Buchdeckel eines Freundschaftsalbums aus Elfenbein anzufertigen als Weihnachts- und Abschiedsgeschenk an Mitsänger Prof. Dr. Carl Wolfrum (1825–1907, Lehrer der Kreisgewerbeschule in Augsburg), der 1862 Direktor der Handelslehranstalt in Gotha[15] wurde.
Möglicherweise erfuhr Franz Gremser durch seinen Altar und seine nicht mehr nur lokale Berühmtheit einen so wirtschaftlichen Aufschwung, dass er sich ab 1861[16] eine Werkstatt in Litera D 285 „beim Fuggerdenkmal“ leisten konnte, wo er „nett gearbeitete Sängerzeichen aus Elfenbein sowie die immer beliebten Turner-Nadeln“[17] fertigte. 1867 verstirbt am 17. Januar ein Franz Karl Gremser, Drechslersohn, an Gehirnhöhlen-Wassersucht im Alter von 8 Monaten.[18] 1871 verstirbt ein weiteres, aber ungenanntes Kind im Alter von knapp 4 Jahren.[19] In dieser Zeit bewirbt Franz Gremser auch seine Meerschaum-Zigarrenspitzen sowie Spazierstöcke und Tabaksdosen[20], auch noch im Jahr 1875[21]. In diesem Jahr zieht er sein Geschäft in die Maximilianstraße Lit. D 5 ins Haus von Cafétier Friedrich Mußbeck um.[22] Im Jahr 1886 nimmt Franz Gremser an der Schwäbischen Kreisausstellung, die in Augsburg stattfand, teil.[23] Ab da verlieren sich die Anzeigen und die Nennungen. Eine Sterbeanzeige konnte ich bislang noch nicht finden. Das Maximilianmuseum Augsburg besitzt kein Werk von Franz Gremser.
Wohin verschwunden?
Wurde das Werk von London aus in die USA verkauft, wo sich die Spur verliert, vielleicht auch durch nicht gerade selten vorkommende Schiffshavarie im Sturm? Sollte sich Gremsers Altar nicht in einem der von den Fliegerbombenangriffen 1940/1941 zerstörten Häusern in London befunden haben, so kann es gut möglich sein, dass sich das Ganze irgendwo in England noch in Privatbesitz befindet und der öffentlichen Wiederentdeckung harrt. Rätselhaft, dass solch ein fantastisches Werk wie vom Erdboden verschluckt zu sein scheint.
Vielleicht wird es durch diese nun vorhandenen neuen Spuren ja wieder aufgefunden? Es wäre jedenfalls eine enorme Sensation, könnte man den nachgeschnitzten Blaubeurer Altar wieder in einer Ausstellung in Augsburg bewundern.
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+++Update 2. August 2023+++
Franz Gremser hat laut Angaben im Allgemeinen Künstlerlexikon den Blaubeurer Hochaltar auch restauriert und wusste dabei „in gelungenster Weise“ ganze Figuren und Reliefs zu ergänzen (s. Einzelnachweis 1).
In ähnlichem Umfang fand das bereits Peter Schmid heraus, der dazu 2020 im Blaumännle-Magazin veröffentlichte. Da diese Forschung auf Online-Wegen nie erschienen ist, war/ist sie online leider auch nicht auffindbar. Ich konnte somit nicht davon wissen, als ich mich nach Fund der Augsburger Zeitungsmeldung auf die Suche machte.
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Einzelnachweise
[1] Allgemeines Künstlerlexikon oder Leben und Werke der berühmtesten bildenden Künstler. 2. Aufl. Bd. 2, Stuttgart (Ebner & Seubert) 1878, S. 121. Mit Dank an Moritz Ernst Jacob fürs Auffinden. Ein weiterer Franz Gremser, wahrscheinlich der Vater, lässt sich in Augsburg 1838 als Zeichnungslehrer, Schneidermeister und Entwickler für Korsette nachweisen. Vgl. Münchener Tagblatt, No. 167, Dienstag, 19. Juni 1838, S. 614. 1856 stellte Franz Gremser als Drechslergeselle eine „Kapelle in gothischem Style“ in Augsburg im Kunstverein aus. Vgl. Augsburger Anzeigblatt, Nr. 218. Sonntag 10. August 1856, o. S. (zweite Seite).
[2] Sehr alte Gaststätte am Kirchplatz in Blaubeuren. Originalbau noch vorhanden, derzeit außer Betrieb.
[3] Wohl aus dem Buch Der christliche Altar archäologisch und artistisch dargestellt. Nürnberg (Riegel & Wiessner) 1838.
[4] Vgl. Augsburger Tagblatt, No. 125. Freitag 7. Mai 1858, S. 1012.
[5] Vgl. ebda., No. 42. Samstag 11. Februar 1860, S. 334.
[6] Vgl. ebda., No. 68. Donnerstag 8. März 1860, S. 541. Unbekannt, ob die beiden in Augsburg waren oder Gremser sein Werk in München aufgebaut hatte.
[7] Vgl. ebda., No. 76. Freitag 16. März 1860, S. 606.
[8] Vgl. ebda., No. 260. Freitag 21. September 1860, S. 2106.
[9] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Pfladerm%C3%BChle_(Augsburg) (Stand: 20.09.2021). Heutige Pfladergasse 11. Dass Franz Gremser dort seine Werkstatt hatte, ist unbekannt. 1855 befand er sich noch in der Franziskanergasse Lit. H 306. Vgl. Addreß-Buch für Augsburg, Königl. Regierungs-Bezirks-Hauptstadt von Schwaben und Neuburg 1855. Augsburg (Kohler & Brinhauser) 1855, S. 72.
[10] Vgl. Augsburger Tagblatt, No. 19. Samstag 19. Januar 1861, S. 154.
[11] Vgl. Susanne Wosnitzka: Clara Schumann hat null Bock. Unbekanntes zu Clara Schumann und Franz Liszt in Augsburg. Neues zur Konzertorganisation im 19. Jahrhundert in Augsburg und München. Blogtextbeitrag im Rahmen der #femaleheritage-Aktion der Monacensia München, 9. November 2020.
[12] Vgl. Augsburger Tagblatt, No. 195. Freitag 18. Juli 1862, S. 1706, u. No. 202. Freitag 25. Juli 1862, S. 1761.
[13] Vgl. N. N.: Ueber Elfenbeinhandel und Elfenbein-Industrie, in: Kunst- und Gewerbe-Blatt des polytechnischen Vereins für das Königreich Bayern. 53. Jahrgang. Januar 1867, S. 21.
[14] John Burley Waring/William Robert Tymms: Masterpieces of industrial art & sculpture at the international exhibition, 1862: in three volumes. Vol. 1. London (Day & Son) 1863, ohne Seitenzahlen, plate 81.
[15] Vgl. Freundeskreis der Öffentlichen Handelslehranstalt e. V.: Die Öffentliche Handelslehranstalt zu Leipzig 1831–1950. Festschrift zum 170. Jahrestag ihrer Gründung. Leipzig 2001, S. 43.
[16] Vgl. Augsburger Tagblatt, No. 337. Sonntag 8. Dezember 1861, S. 2779. Anzeige Geschäftseröffnung.
[17] Vgl. Augsburger Tagblatt, No. 210. Sonntag 2. August 1863, S. 1736. Heute Philippine-Welser-Straße 26, Parfümerie Naegele. Dort befindet er sich laut Adreßverzeichnis auch noch 1866.
[18] Vgl. Augsburger Tagblatt, No. 46, Freitag, 15. Februar 1867, S. 400. Gremser lebte in Lit. G 15 in der Jakoberstraße.
[19] Vgl. Neue Augsburger Zeitung, No. 261, Samstag 23. September 1871, S. 1829.
[20] Vgl. ebda., No. 348, Dienstag 19. Dezember 1871, S. 1771.
[21] Vgl. Augsburger neueste Nachrichten, No. 111, Dienstag, 11. Mai 1875, S. 1381.
[22] Heute Maximilianstraße 10, Snipes Schuhgeschäft.
[23] Mit Dank an Dr. Christoph Emmendörfer (Maximilianmuseum) für diese Auskunft.