Das Haus Malfatti in Innsbruck – Haus des Grauens?

Für den Oktober 2022 habe ich für Twitter eine Reihe mit Gruselgeschichten aus alter Zeit aus historischen Augsburger Tageszeitungen kreiert, die ich für die Jahre 1746 bis 1878 besonders auf kulturelle Nachrichten untersucht habe: Auffindbar unter dem Hashtag #Spooktober wie bereits im letzten Jahr mit den gruseligsten und erschütterndsten Berichten über Mord, Suizid, Femizid, Scheintoden und Geistererscheinungen bis hin zu Missbrauch in verschiedenen Einrichtungen.

Eine davon, die mich sprachlos machte, fand ich zur Geschichte der Stadt Innsbruck. Sie macht deshalb sprachlos, weil sie offenbar bis heute entweder nicht mehr bekannt ist oder nach wie vor verschwiegen wird. Erstmals publiziert am 26. Oktober 2022 auf Twitter – eingebettet hier – breite ich sie unten nochmals mit Einzelnachweisen und weiteren Überlegungen auf.

Gefängnis, Mord und Hinrichtung

„Auch Belgien hat seinen Pater Gabriel. Derselbe trägt merkwürdiger weise einen Namen, der bereits viel Sturm erregt hat, den Namen Duchesne, und ist Vicar von Saint Marguerite in Lüttich. Er ist des Vergehens gegen die Sittlichkeit, begangen an fünf jungen Mädchen, zum Theil in einem Alter von kaum 8 Jahren, angeklagt, denen er Unterricht in der Religion ertheilte. Wie damals in Wien, so trat auch hier die ultramontane Presse mit der größten Leidenschaftlichkeit für den verbrecherischen Pfaffen in die Schranken. Man fachte die Wuth der unwissenden Bevölkerung an, natürlich gegen die unglücklichen Opfer und die Lehrerinnen, welche die gebieterische Pflicht erfüllten, belastendes Zeugniß abzulegen. Man machte, wie gewöhnlich, aus dem Uebelthäter einen Märtyrer, eine verfolgte Unschuld. Nichtswürdige anonyme Briefe, gehässige Verläumdungen, Druck auf die Zeugen – nichts wurde versäumt, noch dazu in einer Stadt wie Lüttich. In Folge dessen hatte sich während der Verhandlung eine Menge Menschen vor dem Gerichtshause aufgestellt, welche die Zeugen mit Pfeifen und beleidigenden Ausdrücken empfing, so daß diese nur mit Hilfe der Polizei vor thätlichen Angriffen geschützt werden konnten. Aber die Zeugenaussagen waren so gravirend, daß der Gerichtshof den Angeklagten in drei Fällen zu sechs Monaten, in vier Fällen zu vier Monaten Gefängniß verurtheilte, wozu noch das Verbot der Ausübung der in Artikel 31 des Strafgesetzbuches erwähnten Rechte auf fünf Jahre und die Kosten traten.
Ende Juli hat zu Bari die Hinrichtung eines Priesters stattgefunden, welcher ein Mädchen, nachdem er es in barbarischer Weise entehrt, durch sieben Dolchstiche getödtet hatte.“[1]

Beichtstuhl-Affäre

Es handelt sich bei Pater Gabriel Gady um die sog. Beichtstuhl-Affäre in Linz. Auf Wikipedia ist zu lesen: “Ihr Auslöser war die am 28. Dezember 1871 in der Linzer Tages-Post erschienene Behauptung, im Beichtstuhl der Karmelitenkirche in Linz sei es zu sexuellen Übergriffen gekommen, ohne jedoch „aus Schicklichkeitsgründen“ ins Detail zu gehen. Den Höhepunkt bildete ein Schwurgerichtsprozess, in dem der beschuldigte Karmeliten-Pater Gabriel Gady gegen die Redaktion der Zeitung wegen Ehrenbeleidigung (Verleumdung) klagte. Der Fall spielte eine wesentliche Rolle in der öffentlichen Auseinandersetzungen zwischen „ultramontanen“ Katholiken und antiklerikalen Liberalen im Zusammenhang mit den österreichischen Maigesetzen von 1868.”[2]

Ob Pater Gabriel schuldig war oder nicht oder ob er einer Falschbeschuldigung unterlag, ist offenbar nicht weiter bekannt. Warum wurde der Fall quasi eingestellt? Warum schwiegen sich die möglichen Opfer dann doch aus? Fragen, die derzeit noch nicht beantwortet werden können. Dieser Fall müsste neu aufgerollt werden.

Haus Malfatti als “Haus des Grauens”?

Nur wenige Jahre nach der “Affäre Gabriel” erschien im Augsburger Tagblatt ein Bericht, der den Schilderungen in Innsbruck nach “eine unglaubliche Aufregung in der Stadt” verursacht habe und ein “Schrei der Entrüstung durch das ganze Land gehen” werde:

Ausschnitt aus dem Augsburger Tagblatt zur Causa Malfatti © Screenshot Susanne Wosnitzka
Ausschnitt aus dem Augsburger Tagblatt zur Causa Malfatti © Screenshot Susanne Wosnitzka

“Der Name „Malfatti“, des Gründers des der Leitung von Schulbrüdern übergebenen Knaben=Instituts in Innsbruck, hat sich rücksichtlich seiner Schöpfung in des Wortes schlimmster Bedeutung erfüllt; denn es sind wahrhaftig mal fatti, die aus dem neuerbauten Institute am Inn in die Oeffentlichkeit dringen. Schon vor einiger Zeit munkelte man davon, daß es um die sittliche Zucht in dem neuen Hause am Inn=Kai nicht am besten bestellt sei. Das gab Veranlassung zu Nachforschungen, deren Resultate sich derart gestalteten, daß die Localpolizei sich alsbald bemüssigt fand, die Angelegenheit dem Strafgerichte zu übergeben. Die von demselben eingeleiteten Vernehmungen müssen derart compromittirende Facte constatirt haben, daß sich das Gericht zur Verhütung weiteren Unheils veranlaßt fand, die competente Behörde zu informiren. Diese scheint nicht minder zu raschem Entschlusse alle Veranlassung gefunden zu haben. Am 26. erhielt der Bürgermeister den Auftrag des Statthalters, sofort wegen Schließung des Malfatti’schen Knaben=Instituts das Geeignete vorzukehren und zunächst die Eltern und Vormünder der sich im Institute befindenden 131 Knaben zu verständigen. Als Grund dieser Maßregel war angegeben, daß sich die mit der Leitung des Institutes betrauten Schulbrüder gröblicher unsittlicher Handlungen, begangen an ihren 12, 13, 14 und 16 Jahre alten Zöglingen, schuldig gemacht haben. [Brüder werden angewiesen, das Insitut sofort zu verlassen] […] Wie man uns von gut unterrichteter Stelle mittheilt, hat ein Bruder, gegen welchen arge Gravamina vorliegen, bereits am 20. d. M. die Anstalt verlassen. Seiner habhaft zu werden, sind bereits die nöthigen Vorkehrungen getroffen. Zwei andere sehr gravirte Brüder sind heute Vormittags vom Untersuchungsrichter vernommen worden. Man fürchtet allgemein Enthüllungen der allerschlimmsten Art, wozu auch eine jüngst vorgenommene Untersuchung der Schlafstellen seitens des Stadtarztes Anhaltspunkte geben soll. Es herrscht eine unglaubliche Aufregung in der Stadt, deren Bürger so manches Kind der Anstalt anvertraut haben. Durch das ganze Land wird ein Schrei der Entrüstung gehen über Knabenverführung, begangen abermals durch Mitglieder eines geistlichen Ordens. Jetzt wäre es an der Zeit für den Bischof von Brixen, unter dessen besonderer Protection das Malfatti’sche Institut stand, Thränen zu vergießen. Erbarmen fühlen wir nur für die mißbrauchten Kinder und dann für Einen, nämlich für den opferwilligen, aber leider nur zu sehr von seinem Bruder, einem Jesuiten, mißleiteten ehrenwerthen Bürger Malfatti. (N[eue]. F[rankfurter/Freiburger/Freie?]. Pr[esse]).”[3]

So weit der originale Wortlaut dieser Zeitungsmeldung. Hier gibt es ebenfalls einen Namen eines möglichen Täters oder ggf. mehrerer Täter – nämlich auch des damaligen Bischofs von Brixen. Was wusste dieser?

Die Recherche beginnt

Ich recherchierte mit den Stichworten “Malfatti” und “Innsbruck” und stieß auf Erstaunenswertes, nämlich auf einen Alois Malfatti (1835–1895), der genau in diese Zeit passt:

“Malfatti Alois, Handelsmann und Philanthrop. * Innsbruck, 8. 9. 1835; † Innsbruck, 15. 9. 1895. Sohn eines Handelsmannes, der aus dem Trentino stammte; seine Schulbildung dürfte M. in Innsbruck erhalten haben, wo er nach dem Tod seines Vaters (1854) dessen Kurz- und Modewarengeschäft in der Innsbrucker Altstadt übernahm. M. war tief religiös und einer der vermögendsten, aber auch wohltätigsten Bürger der Stadt. Ein bleibendes Denkmal setzte er sich nebst zahlreichen in aller Stille geleisteten Spenden durch die Stiftung einer Erziehungsanstalt für verwaiste und verwahrloste Knaben (zu welchem Zwecke er 1864 um 22.000 Gulden eine Liegenschaft im Stadtteil St. Nikolaus kaufte), welche aber leider 1872 wieder geschlossen werden mußte. M. übergab die Anstalt 1873 (definitiv 1877) den Barmherzigen Schwestern mit der Bestimmung, darin ein Altersheim mit 128 Plätzen einzurichten.”[4]

Die Erziehungsanstalt musste “leider 1872 wieder geschlossen werden”? Leider? Ohne triftigen, tiefgreifenden Grund wird keine religiöse Anstalt einfach so geschlossen. Der Grund des Schließens dürfte hiermit also gefunden sein!

Haus Malfatti Innbruck im Jahr 1886 © wikimedia.commons (PD-alt-100). Bearbeitung von Susanne Wosnitzka
Haus Malfatti Innbruck im Jahr 1886 © wikimedia.commons (PD-alt-100). Bearbeitung von Susanne Wosnitzka

Aufschrei bzw. Nicht-Aufschrei

Das Haus Malfatti, das heute Haus St. Josef am Inn heißt[5], existiert als Bau und Einrichtung bis heute. Allerdings – so wird auf der Webseite erklärt – erst ab dem Jahr 1877. Handelt es sich hierbei dennoch um dasselbe Gebäude oder wurde das “Haus des Grauens” abgerissen und zu 1877 hin neu errichtet, da quasi verbrannte Erde? Warum fehlt diese Vorgeschichte des Hauses? Ganz bewusst oder weil man es bis heute nicht anders weiß?
Wollte Alois Malfatti mit dem Bau einer weiteren segensvollen Einrichtung sein möglicherweise doch beflecktes Gewissen reinwaschen? Wie stand sein Ansehen nach dieser “Affäre Malfatti” 1872 in der Stadt? Konnte er unbehelligt weitermachen? Was für ein Druck muss ggf. ausgeübt worden sein, wenn er denn unbehelligt weitermachen konnte?

Vorhandene weitere Spuren?

Wenn das Ganze einen so großen Aufschrei verursacht hat, liegen in den Innsbrucker Tageszeitungen wahrscheinlich weitere chronologische Berichte dieser Art vor und vielleicht in einem der Archive auch noch Gerichtsakten – sofern nicht versucht wurde, diese verschwinden zu lassen, um die ganze Geschichte zu vertuschen. Was ist zudem mit den möglichen Opfern geschehen? Wurden sie auf andere Häuser dieser Art verteilt? Der Bischof von Brixen war in dieser Zeit Vinzenz Gasser (1856–1879)[6]. Auch sein Wirken sollte auf diesen Fall zwingend untersucht werden. Laut seinem Wikipedia-Artikel wurde 1876 auch in Zinggen bei Brixen ein Knabenseminar eröffnet. Fiel dort Ähnliches vor?
Ebenfalls erstaunlich, dass Missbrauch in katholischen Einrichtungen in diesem Wikipedia-Artikel für das 18. und besonders 19. Jahrhundert zu fehlen scheint. Befasst man sich allerdings näher damit, erscheint einem nicht nur die Fülle an Fällen (die auch in historischen Zeitungen aufgezeigt wurden), sondern auch die Reaktion der katholischen Kirche darauf schlicht monströs. Nicht nur durch Verbrechen an Kindern, sondern auch am eigenen Personal.[7]

Wenn man aktuell nachlesen kann, wie offenbar versucht wird, Missbrauch in heutigen religiösen Einrichtungen noch immer zu vertuschen[8], wundert es nicht, dass es bereits früher so geschah. Ein offenbar bis heute ‘gut’ funktionierendes System.

Für Innsbruck und im Namen der bislang unbekannten möglichen Opfer des Hauses Malfatti wünsche ich eine fundierte wissenschaftliche Aufarbeitung. Vielleicht ist mit diesem Artikel dazu ja nun ein Auftakt geschehen.

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Einzelnachweise
[1] Vgl. Augsburger Neueste Nachrichten, Nr. 187, Dienstag den 10. August 1875, S. 2340. Zu diesen Fällen und besonders zur Hinrichtung des noch unbekannten Priesters auf Bari (wohl das in Apulien/Italien) müsste weiter recherchiert werden.
[2] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Beichtstuhl-Aff%C3%A4re (Stand: 29.04.2022).
[3] Vgl. Augsburger Tagblatt, No. 2. Donnerstag 2. Januar 1873, S. 19.
[4] Vgl. https://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_M/Malfatti_Alois_1835_1895.xml (Stand: 29.04.2022).
[5] Vgl. https://www.haus-sanktjosef.at/institution/geschichte/ (Stand: 26.10.2022).
[6] Vgl. https://www.bz-bx.net/de/bischof/alle-bischoefe.html (Stand: 26.10.2022) und https://de.wikipedia.org/wiki/Vinzenz_Gasser (Stand: 26.10.2022).
[7] Vgl. Doris Reisinger: Nicht mehr ich. Die wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau. Edition a, Wien 2014, ISBN 978-3-99001-109-6. Zum Schweigen/Vertuschen der Bischöfe in neuer Zeit empfehle ich diese preisgekrönte ZDF-/Phoenix-Doku Das Schweigen der Hirten (2018): https://www.youtube.com/watch?v=fPfAhznwbV0 (Stand: 26.10.2022) sowie #NunsToo. Sexueller Missbrauch an Ordensfrauen. Fakten und Fragen (Stand: 08.11.2022), missbrauchsmuster.de (Stand: 08.11.2022) und New allegations charge Franciscan University abuse cover up (Stand: 08.11.2022).
[8] Vgl. https://www.tagesschau.de/investigativ/report-mainz/katholische-kirche-freiburg-missbrauch-aufarbeitung-101.html (Stand: 26.10.2022).